In der letzten Zeit hat sich Gstrein, der 1988 mit seinem Debüt, der Erzählung „Einer“, zum weithin wahrgenommenen Hoffnungsträger der österreichischen Literatur avancierte, aus dem Literaturbetrieb etwas zurückgezogen. Zuletzt war 1995 sein Roman „Der Kommerzialrat“ erschienen, für den er „eher Hiebe als keine Hiebe gekriegt“ hat, was zwar „schmerzhaft war, aber auch die Möglichkeit bot, Distanz zu gewinnen“. Und das hat Gstrein, wie er sagt, „sehr genossen“.
Seit knapp drei Jahren lebt der 1961 in Mils (Tirol) geborene Autor in der Schweiz. Seine Innsbrucker Studentenwohnung dient ihm heute nur noch als Bücherlager. „Zürich ist nicht unbedingt die Stadt, die man sich als Österreicher zum Leben aussucht. Die Gründe, warum ich dennoch hier lebe, sind ‚privat‘, wie man so sagt. Ich habe auch eine kleine Wohnung im Hamburg und nutze jede Möglichkeit, ’nicht anwesend‘ zu sein. Das Problem an Zürich ist, daß es hier im Unterschied etwa zu Berlin keine für mich erkennbare Nischen gibt: Entweder man hat Geld oder man hat keines. Und ich fürchte, daß Hamburg ähnlich strukturiert ist. Meine Lieblingsstadt ist jedenfalls London, und ich würde sofort dort wohnen, wenn ich das nötige Geld dazu hätte.“
Gstrein legt freilich wert auf die Feststellung, daß er aus Österreich weder vertrieben wurde, noch geflüchtet ist: „Es gibt ja bei uns Schriftsteller, die behaupten, Emigranten im eigenen Land zu sein und mit dem Exil kokettieren. Ich halte das alles für ziemlich anmaßend und bin überhaupt nicht glücklich, wenn ich irgendwo lesen muß, daß ich ein ‚Österreichflüchtling‘ bin. Ich bin nämlich nicht geflüchtet und nicht ins Exil gegangen, ich bin bloß aus dem und dem Grund weg und könnte genausogut dageblieben sein.“
Das Thema Exil führt direkt zu Gstreins jüngstem und bislang umfangreichsten Buch, an dem er die letzten vier Jahre gearbeitet hat. In gewisser Weise sind Die englischen Jahre ein Abfallprodukt, denn auf die Geschichte vom Gefangenen, der sich im englischen Internierungslager eine jüdische Identität erschleicht, ist Gstrein im Zuge der Recherchen für einen anderen Roman gestoßen, der ihm „mißlungen ist, weil er zu komplex in der Anlage war und ich an die 20 verschiedenen Lebensläufe ineinanderzulegen versucht habe“.
„Ich kann eigentlich fast keinen Satz hinschreiben, ohne ihm sofort zu widersprechen. Selbst wenn ich den ‚richtigen‘ Satz festhalten könnte, möchte ich sofort die Hälfte davon wieder zurücknehmen. Das geht mir auch so, wenn ich etwas über mich lese, selbst wenn es noch so zutreffend ist, stört mich, daß ich festgelegt bin. Ich interessiere mich sozusagen stärker für den biografischen Möglichkeitsraum als für den Wirklichkeitsraum.“
Die englischen Jahre machen da keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil: Die Erzählerin ist mit ihrem Versuch, all die Gerüchte und Legenden, die über den mythenumwobenen Exil-Schriftsteller Gabriel Hirschfelder kursieren, durch selbst recherchierte „Fakten“ zu ergänzen und zu einem Bild zusammenzufügen, zum Scheitern verurteilt. Was sie in den mittleren Romankapiteln in der zweiten Person nacherzählt, hat so nie stattgefunden.
Gstrein ist es dabei aber nicht um kognitiven Pessimismus, um die literarische Umsetzung eines „Nix-Genaues-weiß-man-nicht“, sondern um die Frage des Umgangs mit einer ganz bestimmten Thematik zu tun. „Ich habe mich gegen diese Exilgeschichte gewehrt, weil ich gewußt habe, wenn ich darüber schreibe, dann muß ich auch etwas über ‚das Jüdische‘ machen. Ich dachte aber: Möglicherweise ist es ein Vorteil, nicht sehr viel darüber zu wissen. Wer sehr viel weiß, neigt vielleicht dazu, die jüdische Tragödie erklären zu wollen. Dabei ist es nur grotesk: Genauso wie man zwischen Juden und Nicht-Juden unterschieden hat, hätte man zwischen Menschen unterscheiden können, die über ein Meter 80, und solchen, die unter eins 80 sind. So blöd war das, da gibt es nichts zu verstehen. Dieses Verstehen-Wollen produziert in vielen belletristischen Büchern zu diesem Thema häufig genug Folklore und Kitsch. Ich glaube, daß das literarische – nicht das politische – Problem der Nachgeborenen im Philosemitismus besteht; in einem Philosemitismus, der letztlich nichts anderes ist als ein Antisemitismus mit anderen Vorzeichen.“
Wo Peter Handke die Rückkehr zur unverstellten Evidenz predigt, die sich in der Begegnung mit der Natur und der Einübung einer gleichsam sekundären Naivität ergäbe, welche die medialen Manipulationen sozusagen durch Verlernen überwinden soll, da weiß Gstrein, daß es zu einer multiperspektivisch aufgefächerten Skepsis keine Alternative gibt. Nicht um die Suspendierung der Schuldfrage geht es ihm (wie sie Handke in der „Fahrt im Einbaum“ ganz explizit für die Literatur fordert), sehr wohl aber um eine Infragestellung jener „Authentizität“, die jede noch so geschönte biografische Erzählung akzeptiert, sofern diese nur die Weihen der Zeitzeugenschaft trägt.
Bei seinen eigenen Recherchen war Gstrein sowohl mit fremden als auch mit eigenen Widerständen konfrontiert. „Ich habe in Wien mit einem Exil-Experten über mein Vorhaben gesprochen und den Eindruck gewonnen, auf eine Haltung zu stoßen, die besagt: ‚Wie kommst du dazu? Das machen doch wir, und du hast da nichts verloren.‘ Entweder, man weiß schon alles und gehört zum Clan oder man bleibt draußen.“
Gstrein selbst hat es vermieden, sich mit Insassen der besagten Lager zu treffen und zweimal Verabredungen kurzfristig abgesagt: „Ich habe befürchtet durch die Fülle des Erzählten Gefahr zu laufen, zu dokumentarisch zu werden alles wäre wichtig gewesen, und die Auswahl wäre mir sehr viel schwerer gefallen. Wenn man literarisch zu schreiben versucht, muß man das meiste weglassen, weil man sonst belehrend wird.“
Trotz aller Reduktion ist von der Fülle des Erzählten noch genug übriggeblieben, um ein schmales Buch damit zu füllen, das im Frühjahr erscheinen wird. „Selbstpoträt mit einer Toten“ wird die Erzählerin der „Englischen Jahre“ mit dem eitlen Geschwätz ihres Gatten konfrontieren, der seinen „unwichtigen Literaturbetriebsmüll“ über sie auskippt. Und weil Gstrein „nicht nichts tun“ kann, schreibt er mit ungewohntem Schwung an Ungewohntem – an einem Stück: „Ich glaube zwar, daß ich das eigentlich nicht kann und möchte das so unambitioniert wie möglich machen unter der Vorgabe, daß auch nichts herauskommen muß. Also sitze ich da und schreibe relativ flott Dialoge vor mich hin viel schneller als ich sonst schreibe.“