#Roman

Wendel

Gertrude Maria Grossegger

// Rezension von Daniela Bartens

Im Anfang war der Sack und der Sack war groß, ein Plastiksack aus dem „Baumarkt“, Behältnis für „alles Mögliche“ (14), was die Schöpfung hervorbringt – Äpfel, Erdäpfel, Hasen oder Heu – und einer hineintun kann und darin verbirgt. Aber der Inhalt drängt heraus aus dem Sack, nimmt andeutungsweise Form an. Und was Wendelin, kurz Wendel, aus dem Sack ragen sieht, den ihm sein Freund Theo für den rituellen gemeinsamen Kochabend an die Tür bringt, raubt ihm sogleich das Bewusstsein. Handelt es sich doch um etwas „Eingefleischtes“, das ihm gar „nicht wurst“ (12) ist.

Was da „herausschaut“, will ganz und gar „nicht hineingehen“ (15) in seinen Kopf. Wendel fällt in Ohnmacht, im Kopf drinnen aber beginnt alles zu kreisen. Und während Wendel reglos am Boden liegt, „hebt“ der Bilderstrom inwendig „ab“ (10) und manifestiert sich im Text als Sprachstrom: „Blitzartig tauchen Menschen und Ereignisse aus seinem Leben auf, durch den Kopf schießen sie, alles läuft ab wie ein Film, aber anders als ein Film normalerweise abläuft, durcheinander und kreuz und quer, kein roter Faden ist da, der den Film zusammenhalten würde.“ (16)

Gertrude Grossegger ist als Lyrikerin und virtuose Sprachartistin bekannt. Mit Wendel legt sie nun ihren ersten Roman vor, in dem der Name des Protagonisten zum Programm wird – ganz gemäß der Überzeugung, „dass immer was dem Namen nach hinein muss ins Leben“ (66). Und so setzt „Wendel“ eine Art Bilder- und Geschichtenzentrifuge in Gang, in der sich zentrifugale und zentripetale Kräfte die Waage halten, und von Beginn weg durch den angedeuteten Plot Spannung erzeugt wird, die – durch die zahlreichen scheinbaren Abschweifungen noch gesteigert – eine intensive Sogwirkung entfaltet. Was im Sack ist, soll endlich auf den Tisch kommen, so die Lesererwartung, doch die Umwege werden immer mehr zur eigentlichen Geschichte, liefern Anknüpfungspunkte, ohne die eine Lösung des skurrilen „Falles“ undenkbar wäre. Wenige Minuten nur dauert Wendels Ohnmacht, was dabei in freier Assoziation, als Bewusstseins- oder besser gesagt Halbbewusstseinsstrom, mittels Assonanzen, Homonymien, Sprachbildern vor dem inneren Auge abgespult wird, lässt in immer größerer Beschleunigung ein ganzes Leben in Fragmenten sichtbar werden. Immer schneller dreht sich der Sprachkreisel auf den Moment des Aufwachens zu, der die Sprachzentrifuge zum Stehen bringt und den dezentrierten Sinn in einem neu etablierten Bedeutungsgefüge auflöst. Reden dient der Behebung eines Mangels, am Ende ist der „aus der Bahn geworfene“ Wendel wieder „ganz bei sich“ (132) und „wortkarg“ (vgl. 10, 129) wie eh und je. Der Bilderstrom, den die Autorin als Sprachstrom inszeniert, versiegt, der Rest ist Schmunzeln, wie das letzte Wort des Texts lautet.

Dass jenes gelassene Schweigen im Einklang mit den Gegebenheiten nicht auf direktem Wege, sondern nur auf eben jenen Umwegen zu erreichen ist, dass die Bedeutung sich erst im Gebrauch, also im gelebten Leben zeigt, lässt den Roman selbst zu einem Experiment über das Generieren von individueller Bedeutung werden, die – immer wieder metonymisch verschoben und aufgeschoben – erst vom Ende her als prozessuale, schrittweise sich in den Abschweifungen konstituierende erkennbar wird. Insofern vollzieht der Roman selbst, wovon er spricht, ist Roman und Metaroman in einem.
Mit verschmitzter Leichtigkeit und in scheinbarem Umgangston, der Elemente der gesprochenen Sprache mit ihrem spezifischen Klang höchst kunstvoll zu einem ganz eigenen Sound verdichtet, zeichnet Gertrude Grossegger das Bild einer Person, die – in ihrer Lebensmitte angekommen – durch den unfreiwilligen Aussetzer in traumartiger Verdichtung Momente des eigenen Lebens vorüberziehen sieht: die typisch österreichische Kindheit auf dem Lande, „auf einem Bauernhof mit einem Wirtshaus oder auf einem Wirtshaus mit einem Bauernhof“ (24), die „Sommergäste, die zwischen den Ribiselstauden meditiert haben“ (58), die Glockenhosen und die Italienurlaube, die Blaskapelle, die „Füße und Musik in ein taktvolles Miteinander“ (32) bringt, später die Band des Bruders, in der Wendel für den Strom zuständig ist, oder die eigene Hasenzucht im undicht gewordenen Swimmingpool. Da ist immer etwas Dunkles, Bedrohliches in dieser wie in jeder Kindheit, etwas, das sich den Blicken wie auch dem Aussprechen entzieht. Da gibt es baufällige Gebäude, Knechtkammern, die „einiges hergeben … an Erstaunlichem“ (19), verbotene Dachböden mit alten Schundheften, speckigen Lederhosen oder russischen Landkarten, Erdkeller mit angefaulten Erdäpfeln, da gibt es Mäusefänger, die die verdorrten Mäuse als Trophäen auslegen, und Füchse, die die Hasen holen. Eine archaische Welt aus Liebe und Tod, Schuld und wohl auch Sühne.

Dass die rurale Realität kein „Streichelzoo“ (24) ist – höchstens dann und wann für die Touristen –, muss Wendel schon früh erfahren: „da wird Gras geschnitten, da wird umgeackert, da wird gedroschen, gemäht, eingefüttert, ausgemistet, angerüstet, gemolken, geschlachtet, da wird maschinell über den Boden gefahren, da wird über etwas hinweggegangen, da wird erst auf ein Problem eingegangen, wenn sonst nichts mehr nützt, es muss alles etwas nützen, es geht um Nutztiere, und es muss abgewogen werden zwischen der Liebe zum Tier und dem Nutzen für den Menschen“. (24) Kein Wunder also, dass Wendel in seinem späteren Leben „kurz angebunden“ (9) ist, ein „Mann der Tat und der wenigen Worte“ (10). Von der Erdverbundenheit und dem Pragmatismus über die typischen Redensarten bis zum Schweigen und dem Wahren von Geheimnissen ist Wendel ein Kind seiner Herkunft. Zugleich aber ist er auch ein „Feinsinniger“ mit einem feinen Gespür für Unter-, Neben- und Zwischentöne, einer der „was heraushören kann aus dem, was für andere immer gleich klingt“, ein Verwandlungsfähiger – wie schon sein Name sagt –, der dann und wann „abhebt“ (9) und sich dadurch selbst von seiner Umgebung abhebt.

Auch in seinem späteren Leben als Forscher, als Institutsleiter und „Privatdozent“ für „Bodenkultur“ (46) bleibt Wendel ein Gespaltener – einerseits bodenständig seiner Herkunft verhaftet, hebt er sich zugleich von ihr ab und sucht „eine neue Gangart … eine würdevollere, was den Umgang mit dem Tier, mit der Natur allgemein betrifft, denn insgesamt ist es dort, und nicht nur dort, zu Auswüchsen gekommen, und das will Wendel mit aller Anstrengung ändern“ (30). Und so forscht er denn auch an mehreren Projekten gleichzeitig – dem offiziell sichtbaren und geförderten und jenem ganz eigenen, verborgenen Projekt, das er heimlich im Labor hinter dem Labor, in seinem Geheimlabor, betreibt.
Mehrschichtig wie Wendels Persönlichkeit ist auch der Roman selbst. Da werden deutlich autobiografische Elemente aus der Sozialisation der Autorin mit Elementen des kritischen Heimatromans zu einer Art innerem Entwicklungsroman in Bewusstseinsstromtechnik mit zahlreichen musikalischen, literarischen und philosophischen Anspielungen – von „life is life“ über Kafka bis zu Wittgenstein – verbunden, wobei die Verbindungslinien immer über den schelmisch lustvollen Sprachgebrauch, das Sprachspiel mit seinen Doppel- und Mehrdeutigkeiten laufen. Immer sind da zunächst die Worte, die gedreht und gewendet werden, ausgehorcht und abgeklopft, die zusammenklingen und anklingen lassen und aus denen sich eine Art von Erzählung in Sprache und über die Sprache herausschraubt.

Dass es die Töne sind, die die Musik machen, setzt die Autorin mit zahlreichen sprechenden und klingenden Namen bewusst in Szene. Und so nimmt es nicht Wunder, dass Wendelin ironisch als einer charakterisiert wird, „der mit dem Höheren eine Verbindung hat“ (14), mit dem Geheimnisvollen, Numinosen, ist es doch gerade das „i“ im Ausklang seines Namens, das einen „Drall nach oben“ (13) bewirkt.

Und das Wittgenstein’sche Diktum aus dem „Tractatus“, dass „die Welt alles ist, was der Fall ist“, kommentiert Gertrude Grossegger auf die ihr eigene Weise, indem sie vom Fall über das Fallen, von der Falle bis zum Phallus ein ganzes Bedeutungsfeld aufspannt, das die unterschiedlichen Bedeutungsstränge des Texts miteinander verknüpft und so die realistische Abbildtheorie des frühen Wittgenstein implizit durch eine Gebrauchstheorie der Bedeutung kommentiert.

Und was all dies mit Wendels Ehefrau Marie, die er „zärtlich Häschen nennt“ (90), zu tun hat, und mit Wendels lebenslanger Weigerung, den „Foxtrott“ zu erlernen, und auch mit jenem ominösen Plastiksack, das kann hier nicht verraten werden, muss es doch Wendel im Verlauf seiner geheimsten Forschungen auf dem „Schweigergut in Gamspichl“, dort in seinem Hinterstübchen selbst erst herausfinden, um schließlich seinen Frieden zu machen und ohne Hintergedanken und Nebengeräusche tatsächlich schmunzeln zu können, „wenn er schmunzelt“ (132), und damit endlich ganz bei sich zu sein, in jener entlegenen Gegend, wo Fuchs und Hase einander Gute Nacht sagen.

Gertrude Maria Grossegger Wendel
Roman.
Graz: edition keiper, 2018.
136 S.; geb.
ISBN 978-3-903144-67-5.

Rezension vom 23.01.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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