Als Wasseranalytikerin untersucht die namenlose Icherzählerin den Klimawandel anhand hochgelegener Bergseen und schwedischer Küstengewässer. Im Hochsommer 2007, kurz vor Antritt ihres Forschungsaufenthalts in Uppsala, erreicht sie in einer Singlegarconniere in Genua der nächtliche Anruf ihres Exmannes Galip. Der einstige albanische Flüchtling, der nach ihrer Scheidung vor fünf Jahren nichts mehr von sich hören ließ, ersucht sie, sein Leben und ihr gemeinsames Dasein zu beschreiben. Was aus Sorge beginnt, wird ihr zur Sucht des brieflichen Herzausschüttens.
1991 lernt die sozial bewegte Salzburger Schülerin den soeben nach Österreich geflohenen 21-Jährigen mit der Fußballerfrisur kennen. Galip wollte sich eigentlich in Sprachen vertiefen, doch die Gefängnisvergangenheit seines gefolterten Großvaters zwingt ihn zum volkswirtschaftlich bedeutsameren Mineralogiestudium. Den schrittweise herbeigeführten Zusammenbruch des kommunistischen Regimes nutzt er zur Flucht, seine Eltern gelangen nach Italien. Im Triangel zwischen Salzburg, Mailand und Tirana spielt sich nun eine zehn Jahre währende Beziehung ab, die vom Sprach- und Kulturwechsel geprägt ist. Und dass Fremdsein auch mit Freiheit zu tun hat, macht die Erzählerin hier nachfühlbar. Während sie Albanien wie einen „Herzschrittmacher“ ins Herz schließt, muss der perfekt Österreichisch sprechende Albaner bürokratische und alltagsxenophobe Schikanen erdulden. Die Biologiestudentin willigt daher ein, als Galip ihr zwecks Arbeitserlaubnis einen Heiratsantrag macht: „Ich lieh dir meinen Namen und der Staat verlieh dir Rechte.“ Nachdem sie in der TV-Serie „Der Salzbaron“ noch ein glückliches Adelspaar mimen, werden in realiter die Streitereien heftiger. Die Balkankriege belasten die Beziehung ebenso wie divergierende Zukunftsvorstellungen, was sich auch in Galips literarischen Notizen manifestieren könnte. Denn „verständlich“ werden diese den Text unterbrechenden, in mythischen Metaphern um Diktatur und Liebe kreisenden Zettel kaum. Der von Grill auch thematisierte „Anker“ für Leser – eine kluge Replik an die Bachmannpreis-Textkritik im Vorjahr – liegt im erinnerten Geschehen des sprachlich klaren Briefromans.
Galip wird seinen feigen Beziehungsabbruch mit den politischen Umständen und der Folge seiner offiziellen Verankerung in Österreich rechtfertigen. Nach Erhalt der Staatsbürgerschaft muss der Bundesheersoldat just „seine“ österreichisch-ungarische Grenze bewachen, die er einst zitternd übertreten hatte – das Trauma lässt ihn neuerlich verrückt spielen. Den Anfang vom fiebernden Ende einer Ehe beschreibt die 33-jährige Autorin entlang seiner Fluchtmanöver. In Mailand möchte er Konzertmanager seiner Schwester werden und die Doktoratsstipendiatin verspricht nachzureisen. Das Drama von 9/11 erleben sie in Cagliari noch gemeinsam, kurz danach verlangt er die Scheidung und sie willigt ein.
Andrea Grill, in Wien lebende Biologin und Albanisch-Übersetzerin, wechselt im zweiten Romanteil Stil und Tempo und gibt die duzende Briefform auf. Schneller und distanzierter erzählt sie die persönlichen Geschehnisse und die Zustände im noch immer zerrütteten Albanien. Die brieflichen Erinnerungen werden durch den Anruf von Galips Mutter unterbrochen, die ihren Sohn tot glaubt und die Erzählerin bittet, einen vom Hochhaus gestürzten Mann zu identifizieren. Kaum über der Grenze fangen zwar „die Wunder“ an, im verwestlichten Tirana verblassen sie jedoch. Hier dominieren Investoren-Glastürme und auf Handydisplays konzentrierte Menschen das Stadtbild, der Wassermangel und die Gastfreundschaft sind geblieben. Eine Paradoxon unserer Zeit tritt zutage: die Sehnsucht nach der Fremde in einem Land, dessen Bewohner in die Fremde flüchten (müssen).
Von Flüchtlingen erwarten wir bloß Dankbarkeit und lassen sie, die „Maskottchen unseres Altruismus“, dafür großherzig in beschäftigungsloser Ruhe. Fertigt man in Erstaufnahmezentren „Röntgenbilder ihrer Seele“ und „in Microsoft-Word beschriebene Fußtritte“ an, bleiben sie auch als Neo-Österreicher wie Galip der rassistischen Durchleuchtung ausgesetzt. Und als binationales Paar geziemt es sich – das zeigt der Roman sehr deutlich –, allzu Privates wie die Liebe nach außen zu demonstrieren. Andrea Grill hat ein sehr persönlich anmutendes Buch geschrieben, das mit seinem engagierten Grundvertrauen in die Welt einen Hoffnungsanker bietet.