Dies trifft auch in gewisser Weise auf das jüngste eigene Buch Inge Glasers zu, die 2012 im Praesens-Verlag erschienenen Findlinge. Wie furchige, sperrige Felsblöcke kommen diese Geschichten tatsächlich daher, erscheinen dem Leser aber auch als direkt und – einerlei, ob das nun so stimmen mag oder nicht – ohne nennenswertes Lektorat hingeworfene Elaborate der unmittelbaren Textwerdung.
Insgesamt einundzwanzig Prosastücke hat Inge Glaser in die Sammlung aufgenommen, die sich nach Länge und Inhaltsfülle in zwei Gruppen unterteilen lassen: die von der Autorin so genannten „Romanellen“, bis zu etwa vierzig Seiten langen Abrissen teils über längere erzählerische Zeiträume hinweg, die sich in ihrer Skizzenhaftigkeit in der Tat als so etwas wie hingetupfte Roman- oder Novellenvorstufen auffassen lassen, und den „Miniaturen“, oft kurzgeschichtenhaft verdichteten Einzelkonflikten, mitunter auch ansatzweise satirischen Charakters.
Was formal zunächst so weit auseinanderzustreben scheint, wird durch eine sich wie ein roter Faden durch die Texte ziehende Thematik zusammengehalten. Es geht in Inge Glasers Geschichten fast immer um den Umgang mit Schuld, eigener und fremder, um Selbstfindung und die eigene Standortbestimmung der Protagonisten.
Wovon lesen wir nun ganz konkret? Beispielweise von einem Geistlichen, der des Kindesmissbrauchs beschuldigt wird, bis er selbst an seine Schuld glaubt und im selbstgewählten Eremitendasein schließlich auf die Wahrheit stößt (Verlorene Söhne, S. 123-136); von einem Fabrikarbeiter, der vom Aussteigerleben auf einer Touristeninsel träumt und dort mit afrikanischem Flüchtlingselend konfrontiert wird (Inselprinz, S. 68-76); oder von Kriegsschuld, Militarismus und daraus resultierenden Familienkonflikten über mehrere Generationen hinweg (Der Fähnrich, S. 45-67). Sogar an die Empfindungswelt eines Fötus, der sich vor der eigenen Abtreibung fürchtet (Menschwerdung, S. 120-122) wagt sich Glaser heran.
Stilistisch bewegt sich die Autorin dabei auf einem sehr schmalen Grat. Vielen Texten wohnt etwas Zerrissenes, Zerfasertes inne, das durch nicht immer auf den ersten Blick begründbare Wechsel der Erzählzeit und zahlreiche Frage- und Ausrufungszeichen beinahe an expressionistische Vorläufer gemahnt. In anderen Textsequenzen herrscht dann wieder eine sehr konventionelle, fast an traditionelle Heimatromane erinnernde Erzählweise vor. Im Zusammenspiel mit vor allem bei den „Romanellen“ mitunter verwirrenden Handlungsverläufen, die viele Haken schlagen und sich nicht selten gegen Ende ineinander verheddern – oder die umgekehrt schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt vorhersehbar erscheinen – entsteht letztlich der Eindruck, dass die Autorin trotz ihres anspruchsvollen Sujets und ihrer langjährigen Schreiberfahrung nicht alle ihrer Geschichten zu einem für den Leser nachvollziehbaren Schluss zu bringen versteht.
Am besten ist Inge Glaser zweifellos dort, wo sie ihren anfänglich gewählten Sprachduktus durchhält – dies gelingt ihr in den „Miniaturen“ wie der humorvollen Satire Ein Leserbrief (S. 223f.) oder der anrührenden Beerdigungsszene in Paradiesvogel (S. 144f.) fast durchweg besser als in den „Romanellen“, die zwar häufig viel Stoff für einen sogar noch deutlich längeren Text anreißen, der dann jedoch jeweils entsprechend sorgfältiger ausgestaltet werden müsste, um seine ganze literarische Wirkung entfalten zu können, und dessen Figuren in der mitunter nur exposéhaft angedeuteten Handlung oft etwas blass bleiben.
Was jedoch durch alle Geschichten Inge Glasers hindurchscheint, ist ihre sympathische lebensbejahende Grundhaltung. Und so atmen nicht wenige ihrer Texte auch den Geist des Bildes, den die Autorin von sich selbst auf der Umschlagseite des Rücktitels preisgibt: als lebendiges „Gipfelkreuz“, mit ausgestreckten Armen auf dem Regenspitz im Salzkammergut stehend.