Kaum hat dieser sein E-Mail-Konto wieder aktiviert, weht der Nordwind auch schon Post von Emmi in den virtuellen Briefkasten. Und der Dialog geht weiter, kurzweilig und ironisch wie zuvor: „Ob es mit uns weitergehen soll? – Unbedingt.
Wohin? – Nirgendwohin. Einfach nur weiter. Du lebst dein Leben. Ich lebe mein Leben. Und den Rest leben wir gemeinsam.“ Aber kann man einen ganzen Roman lang „einfach nur weiter nirgendwohin“ schreiben? Nein, das kann man nicht. Schon auf Seite 32 treffen Leo und Emmi persönlich aufeinander – und bei diesem einen Treffen bleibt es längst nicht. Doch während die Leser mit jeder Seite ungeduldiger darauf warten, dass endlich „etwas“ passiert, verbannt Glattauer Emmi und Leo zurück hinter ihre jeweiligen Tastaturen und lässt sie unerbittlich weiter aneinander vorbeischreiben. Der Neuanfang, den Leo aus Boston mitgebracht hat, ist nämlich ebenso kompliziert wie Emmis Ehe: der Neuanfang heißt Pamela, trinkt zum Frühstück „Alt-Bostoner Milchkaffee mit viel Wasser und Milch und Zucker, aber ohne Kaffee“, und „in den raren Sexpausen fönt sie ihre bis zu den Kniekehlen wallenden blonden Haare.“
„Seit eineinhalb Jahren verabschieden wir uns voneinander“, stellt Emmi fest, „Wir scheinen uns eigens dafür kennengelernt zu haben, uns voneinander zu verabschieden.“ Das scheinen sie wirklich, denn Daniel Glattauer schafft es, die „sieben Wellen“ bis zuletzt so spannend zu halten wie den „Nordwind“. Mal steht die Sehnsucht kurz davor, die Vernunft zu besiegen, mal hält jeder umso stärker an seinem eigenen mühsam aufgebauten Leben fest. Glattauers Erfolgsgeheimnis: seine Protagonisten sind alles andere als unkompliziert oder perfekt, und oft wissen sie selbst nicht genau, was sie wollen. Emmis Selbstgerechtigkeit und Leos Zurückhaltung können die Nerven der Leserschaft zwar gehörig strapazieren, bleiben aber liebenswert und glaubhaft. Das Briefromanformat ist direkt und überlässt zugleich vieles, was Umgebung, Job und Aussehen der Schreiber betrifft, der Phantasie. So weckt Glattauer nicht nur in den Adressaten der E-Mails, sondern auch in deren vielen (Mit)lesern die Sehnsucht nach der „siebenten Welle“.
Nun , was unterscheidet die siebente Welle von den ersten sechs? Der Strafgefangene Henri Charrière soll von der Teufelsinsel aufs Meer gestarrt und festgestellt haben, „dass jede siebente Welle höher war als die anderen. Von so einer siebenten […] ließ er sein Kokosnussfloß schließlich auf die See hinaustreiben, was seine Rettung bedeutete.“ Was das für Emmi und Leo heißt? Gar nichts, denn Leo schreibt: „Das Meer ist ruhig, die Sonne blendet. Ich warte auf nichts.“ Und auch für Emmi, scheint es, war die siebente Welle nur eine „Alles-Illusion“, denn: „Ich brauche keine Wellen, nicht die ersten sechs, und schon gar nicht die siebente.“ … oder etwa doch?