#Prosa

Meine Dreier

Helga Glantschnig

// Rezension von Petra Nachbaur

„Herkömmliche Scheuermittel können kratzen.“ Ein Damenbein mit Schlittschuh dreht seine Pirouetten auf einer vormals spiegelglatten, bald temperamentvoll zerfurchten Fläche. – Dies war bis vor kurzem meine einzige persönliche Assoziation mit dem Eislaufen. Ganz anders bestückt ist dieses Bedeutungsfeld bei Helga Glantschnig.

Schon in ihrer letzten Publikation, dem Roman „Mirnock„, der die Rituale des Heranwachsens in der österreichischen Provinz im Zyklus der Jahreszeiten schildert, hat das Eislaufen seinen fixen Platz wie das Schwimmen im Sommer, wie das Rodeln und Schifahren im Winter. „Die Vorstellung, wie eine Schwalbe übers Eis zu segeln. Ein in der Luft zergehendes Schneewittchen“ (S. 47) heißt es dort und verweist den Schlittschuh und seine Trägerin in ganz andere Gefilde als die profane, ausgediente Scheuermilch-Werbung.

Noch in einer anderen Hinsicht verfolgt Glantschnig ihre eigene Traditionslinie: Das lustvolle Buchstabenklauben aus dem Band „Rose die wütet. Anagramme nach Filmen“ aufgreifend und weiterführend, variiert sie in ihrem neuen Band „Meine Dreier“ Textsprenkel aus der Weltliteratur, kleine Fragmente oder Gedichtzeilen, und vollführt mit ihnen letternkehrend neckische Pirouetten, kleine Textwirbel, große Sprünge und Sprüche.

In zurückhaltend edler Aufmachung präsentiert der Droschl Verlag Helga Glantschnigs „Schlittschuhbuch“, einen Band, der seinesgleichen noch nicht gesehen hat. Abgesehen vom Weiterschreiben einer persönlichen Linie ist aus der leidenschaftlichen Faszination für das Eislaufen eine ganz neue Art von Kompendium entstanden, ein großartiges Sammelsurium zwischen Tagebuch, Erlebnisbericht, Kunst- und Kulturgeschichte, zwischen älteren Herren und kleinen Mädchen, welche sich begegnen im Eistanz, in der gelenkten, gelenkig-ungelenken Bewegung.

Fünf starke Motti sind dem Band vorangestellt wie eine hochkarätige Jury von Punkterichtern bei internationalen Bewerben. Zu allererst kommt Elias Canetti zu Wort mit dem Ausspruch: „Ich stelle mir die Dichter am liebsten auf einer Eisbahn vor und wie sie ungeschickt umeinander herumfahren.“ Und das Nietzsche-Zitat „Ich schreib nicht mit der Hand allein: Der Fuß will stets mein Schreiber sein“ verweist zum einen auf Beuys‘ Denken mit dem Knie, vor allem aber auf die materielle Dimension des Schreibens, der Schrift als Spur, Einritzung, Schürfwunde auf der eisglatten Fläche des Bewußtseins.

Als strukturverleihender Faden zieht sich ein alphabetarisches „Schlittschuhhexeneinmaleins“ durch den Band. Das vorgezeichnet nachzufahrende Alphabet, das die Beziehung von Text/Buchstabe/Schrift und Sport/Körper/Spur auf den Punkt bringt, ist einem methodischen Leitfaden des Schlittschuhlaufens „für Jung und Alt beiderlei Geschlechts“ von 1866 entnommen. Vier nach Saisonen gegliederte Tagebücher schildern Glantschnigs eigene Erfahrungen auf glattem Eis, ihre Begegnungen mit Pensionistenpaaren und Kunstfiguren, ihre begleitenden Recherchen und Lektüren. Diese Texte sowie die bereits erwähnten „Spuren und Anagramme“ (aus Zeilen wie „Ein Seufzer lief Schlittschuh“ von Morgenstern oder „Schnalle die Flügel an vom Stahle“ von Novalis) stellen den genuin „literarischen“ Beitrag Glantschnigs dar. Spannend sind jedoch auch ihre weitverzweigten Ausführungen zur Kulturgeschichte des Schlittschuhlaufens.

Ein Literaturverzeichnis von Ingeborg Bachmann, Emily Dickinson, Charlotte Salomon, Virginia Woolf und dem „Schrittschuh“-Pionier Goethe über illustrierte Sitten- und Kulturgeschichten, Fach- und Lehrbücher bis zur unvermeidlichen Ingrid Wendl und ihrem Band „Eis mit Stil“ veranschaulicht die Recherchen der Autorin, welche die Zeit, die sie nicht selbst am Eislaufplatz verbracht hat, in diversen Bibliotheken zugebracht haben muß, um sich aufzuwärmen. Doch auch in ihren fundierten Darstellungen schlittert Glantschnig nie ins selbstgefällig Dozierende.

Bemerkenswert ist die liebevolle Ausstattung des Bandes auch wegen seiner Illustrationen. Historische Abbildungen, Beispielzeichnungen aus Lehrbüchern und Modeheften und Beiträge wie eine Zeichnung von Friederike Mayröcker – eine Schlitt(en)-Schuhakrobatin mit wehendem blauen Haar im roten nach Innen Kreiseln – machen den Band zwar nicht zu einer Pflicht-, sehr wohl aber zur schönsten Kürlektüre der Saison.

Helga Glantschnig Meine Dreier
Schlittschuhbuch.
Graz, Wien: Droschl, 1998.
223 S.; geb.
ISBN 3-85420-505-8.

Rezension vom 25.09.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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