#Roman

Aufbruch, Gott, Hertha

Winfried Gindl

// Rezension von Helmuth Schönauer

Ein Melodram (aus einem Land wie Österreich).

In Winfried Gindls Melodram leidet der Ich-Erzähler genremäßig an einem Überschwang an Gefühlen und ist außerdem noch mit einer Sprache ausgestattet, die sich fast nicht im Zaume halten läßt.

Der Held zieht in die Welt, heißt die Aufgabenstellung, und die Welt ist sprachlich so gigantisch wie Österreich, nämlich unfaßbar.
Gleich zu Beginn kommt es zu Auseinandersetzungen mit Indianern, die niemal als abgestumpfte Karl-May-Figuren und ein andermal als die esoterischen Ober-Hopis dem Helden über den Weg laufen. Die Indianer-Aufstände richten sich in erster Linie gegen den Alltag, es gilt, den Konsum voranzutreiben und gleichzeitig sich ihm zu unterwerfen. In einem großen Aufstand sind die Ziele immer diffus, so daß sich auch der Ich-Erzähler nur an das eine Ziel halten kann, nämlich der Alltagsumzingelung möglichst rasch zu entkommen.
Bei dieser Gelegenheit kommt es zu einer längeren Begegnung mit Gott. Der Erzähler findet nichts dabei, mit Gott per Du zu sein, immerhin hat er ja mit seiner gewaltigen Sprache alles ansatzweise in der Hand. Alle Fügungen der Sprache, die mit „göttlich“ gemeint sind, werden im Melodram wörtlich genommen, da kann Gott in Lederjacke auftauchen, als Konsument, Leibspeis oder Geliebte.

Nach dem „Aufbruch“ und der Begegnung mit „Gott“ ist als Begegnung der dritten Art jene mit „Hertha“ fällig. In einer ziemlich aufregenden Aktion entsteht Hertha aus einem Jutesack und tritt die Nachfolge von Gott an.
„Da fiel Gott aus dem Jutesack. Der Sack war unten aufgebrochen, schlitzartig, als wenn ihn jemand aufgeschnitten hätte. Gott fiel durch den Schlitz auf den Boden. Er tat sich dabei nicht weh. Er hatte ein braunes Kleid an. Fast wie das Kleid einer Indianerin war es. Aber Gott war nicht mehr Gott. Er war jemand anders geworden. Er hieß jetzt Hertha. Beinahe verführerisch lag sie auf der Wiese.“ (S. 60)

Die Beziehung mit Hertha wird zu einem Gewaltritt durch die Tiefen der Sexualität, denn die Sexualität nimmt alle Versprechungen der Konsumwelt wörtlich und wird letztlich zu einem Konsumgut mit Ablaufdatum. Irrwitzig komisch zeigt sich die verkehrte Welt des Geschlechtsverkehrs, indem die Genitalien durch ihren heftigen Gebrauch abgenutzt, stumpf und schließlich unbrauchbar werden.

Diesen inneren Reisen des Helden steht eine äußere Reise durch Österreich gegenüber. Es handelt sich um eine absurde Austro-Rail-Tour, wo Lokführer während der Fahrt in den Ruhestand treten, Fremdenverkehrsprospekte zu leibhaftigen Ideologien und kaputte Städte zu Wahrzeichen werden.
Graz entpuppt sich als „Kastner&Öhler-Scheiß“, kürzer und treffender läßt sich das geistige Uhrturm-Gegacker vermutlich gar nicht beschreiben. Der Stadt Klagenfurt wird ein Mythos verordnet, der in sich selbst sinnlos ist.

Und immer wieder frißt sich die Sprache selbst aus der Hand, Straßenbahnen werden zu Enten und watscheln quietschend durch die Gassen, die Fernsehwelt legt sich die Schwerkraft der Realität zu, mittendrin wird die Gegend namenlos und hat logischerweise Ortsschilder, auf denen nichts drauf steht. Hertha kommt auf das Fließband, wird zerlegt und neu zusammengesetzt, am Abend setzt Stille ein, wenn die Arbeiter ihre Frauen aus dem Baumax auspacken und ausprobieren.

Winfried Gindls Melodram-Roman ist eine humorvolle, heftige und hitzige Auseinandersetzung mit der herumliegenden „Sprachwelt“ Österreichs. Kritisch werden die Worthülsen aufgesammelt und scharf gemacht, an die Stille der Präzision tritt der flächendeckende Schwachsinn und debile Wortschwänze werden zu Kostbarkeiten erhöht. Die Perversion der Dinge entlarvt die generelle Perversion. Winfried Gindl setzt auf Humor und wohldosierten Wahnsinn, was bekanntlich die schärfsten Waffen der Aufklärung sind. Aufbruch, Gott, Hertha ist ein optimistischer Entwurf, der dem Leser auch im tiefsten österreichischen Sumpfgelände einen gewissen Halt bietet.

Winfried Gindl Aufbruch, Gott, Hertha
Melodram-Roman.
Linz, Wien: Resistenz, 1999.
172 S.; brosch.
ISBN 3-85285-024-X.

Rezension vom 18.11.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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