In der österreichischen Literatur hat Friederike Mayröcker 1968 mit ihrem herzig-gruseligen „ABC-thriller“ (edition freibord, 1992) auf die Struktur des Buchstabenalphabets zurückgegriffen, um kreative Rezeption anzuregen: In Wort und Bild stellt sie ein Figurenrepertoire von „Aloisia, Miss Universum 70“ bis „Zillie, das gefräßige Hechtfräulein“ zusammen, aus dem die lesenden Kinder sich ihr eigenes „richtiges aufregendes Theaterstück“ machen können – und selbst verantwortlich sind für die Thrills.
„hallo kids“ heißt bei Elfriede Gerstl, was vor dreißig Jahren bei Mayröcker noch „Liebe Kinder“ geheißen hat. Und die zeitgemäße Sprache ist nicht das Einzige, was Gerstls alphabetische Kindergeschichten von ihren Vorgängerinnen unterscheidet. Waren besonders die makabren Versionen eher versponnenen Literatenwelten mit leichten Anflügen von Sadismus zuzuordnen, war Mayröckers „ABC- thriller“ ein unorthodoxes Beispiel visueller Poesie, so ist ein wesentliches Moment bei Elfriede Gerstl der explizite Realitätsbezug, der soziale Wirklichkeiten in den Text einbezieht. Bewußt und betont alltäglich, unprätentiös schildert Gerstl Gedanken, Gefühle und Erlebnisse von jungen Teenagern zwischen Kindheit und Pubertät.
Auch die Bilder Angelika Kaufmanns, die nicht nur als Illustratorin von Kinderbüchern, sondern auch als Verfasserin eigenwilliger Wort/Bild-Kombinationen ( 7:17) beachtenswert ist, passen zur selbstverständlichen unmanierierten Ästhetik der „sechsundzwanzig geschichten“. Auf den ganzseitigen Bildern, bunt lavierten Tuschezeichnungen, die je einen Buchstaben begleiten, findet Leben in aller Normalität statt. Die Kinder tragen T-Shirts, die mit „Klammeraffe“ (@) oder Markenzeichen bedruckt sind, und verkehrtrum aufgesetzte Baseballkapperln, sie sind mit Skateboards und Rollerblades unterwegs; auf manchen Bildern liegen Soletti- Packungen im Vordergrund, und die im Hintergrund vorbeifahrenden Züge tragen das „ÖBB“-Emblem.
Und wie in jedem Wiener Bilderbuch, das auf sich hält, gibt es auch hier die Seite mit dem Riesenrad, wenn „peter und petra“, nach kurzem „perplex“-Sein doch noch im „prater“ landen. Nur selten erlaubt sich Kaufmann einen Ausflug ins nicht rein Abbildende, und erst auf den dritten Blick sticht ein besonderer Gag ins Auge, den die Umrißformen der Illustrationen bergen: Die ‚Kulissen‘ sind als ganzseitige Großbuchstaben gestaltet, was die konsequente Kleinschreibung des Textes kokett und subtil unterwandert.
Elfriede Gerstls Texte bestechen durch einen ungemeinen Drive. Es gelingt ihr, Jugendsprache, insbesonders deren lexikalische Elemente („vollsuper“, „logo“, „ziemlich mega-out“), zu ironisieren, ohne sie auch nur im geringsten abzuwerten. Gleichzeitig ist ihre Sprache über den Vorwurf des Anbiedernden erhaben, bewegt sich vielmehr sicher, frei und authentisch im Terrain von Girlies und männlichen Pendants sowie deren sie umgebenden Lebenswelten von Schule und Freizeit, Verwandtschaft und Freunden.
Leichte, stets unaufdringliche pädagogische Anflüge finden sich, ohne den natürlichen Ablauf der alltäglichen Szenarien zu bremsen. Da heißt der „b“-Text auch schon „bubenbonus“ und kritisiert geschlechtsspezifische Sozialisation, ein andermal geht es um „väter die sich vertschüssen“ [S. 46], um Vorurteile gegenüber Ausländern oder das omnipräsente Figurproblem „dora ist zu dünn, dagmar zu dick“ [S. 10]. Wohl nicht von ungefähr erinnert der Titel „die fliegende frieda“ spontan an „die feuerrote friederike“ und somit an Christine Nöstlinger, Verfasserin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher mit sozialkritischem Anspruch in nonelitärer Wiener Umgangssprache.
Frei nach Ursula Krechels „Alphabet der Umstände“ („Abschweifung schiene noch immer besser / als das Alphabet durchzuhecheln in kalter Abreibung“) gönnt auch Gerstl sich und dem Leser jede Menge Ausflüge von der strengen Struktur. Einmal straffer, dann wieder lockerer schreibt sich Gerstl der Buchstabenkette entlang und erzielt gerade durch die Autosubversion der sprachlichen Struktur des Textes besondere Markierungen, etwa, wenn sie im „k“-Text den guten Vorsatz einer jeden Generation beschreibt und gerade durch das Aufbrechen der „k“-Reihe die Fragwürdigkeit und Vergeblichkeit dieses Ansatzes andeutet: „vielleicht kann ichs mit meinen kindern anders machen“ [S. 24].
Amüsant und (selbst)ironisch ist schließlich auch der poetologische Nachtrag, in dem die Autorin zunächst auf ihre Kleinschreibung Bezug nimmt und den Kindern rät, ihre Sprache, ihr Schreiben den jeweiligen Bedürfnissen und Anforderungen entsprechend zu gestalten. „macht es mir in der schule nicht nach, sonst habt ihr einen fleck weg und ich bin schuld“ [S. 56]. Fast schon philosophisch der Satz, in dem Gerstl ‚für Kids‘ den Zusammenhang von Sprache, Bedeutung und Gebrauch auf den Punkt bringt: „jedesmal ist ein anderes reden das richtige“ [S. 56].
Mit ihren „sechsundzwanzig geschichten“ sprengt Gerstl den poetisch-verspielten Rahmenbereich der literalen Fiktion und wagt sich hinein in Themen und Probleme des Alltags von (nicht nur) Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig gelingt es der Autorin wiederum, diesen Alltagsgeschichten in sprachbewußter Form zu begegnen und den Leser zu begeistern für die materielle Dimension der Wörter, der Buchstaben, wie sie sprachintensiver Literatur eigen ist.