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Das glückliche Geheimnis

Arno Geiger

// Rezension von Sabine Schuster

Von Anläufen und Enttäuschungen, vom Finden und Wegwerfen. Und vom Glück des Gelingens.

„Frühmorgens bricht ein junger Mann mit dem Fahrrad in die Straßen der Stadt auf. Was er dort tut, bleibt sein Geheimnis. Zerschunden und müde kehrt er zurück. Und oft ist er glücklich. Jahrzehntelang hat Arno Geiger ein Doppelleben geführt. Jetzt erzählt er davon, pointiert, auch voller Witz und mit großer Offenheit. Wie er Dinge tat, die andere unterlassen. Wie gewunden, schmerzhaft und überraschend Lebenswege sein können, auch der Weg zur großen Liebe. Wie er als Schriftsteller gegen eine Mauer rannte, bevor der Erfolg kam. Und von der wachsenden Sorge um die Eltern. Ein Buch voller Lebens- und Straßenerfahrung, voller Menschenkenntnis, Liebe und Trauer.“

Der Klappentext zu Arno Geigers neuem Buch verspricht keinesfalls zu viel: Hier erzählt ein Schriftsteller, der viele Jahre an seinen ersten Romanen gefeilt hat, bevor er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Buchpreis über Nacht zum Bestsellerautor wurde, „so bestrickend wie kaum jemand sonst vom gelingenden Leben.“ (Sebastian Fasthuber im Falter) Auch die großen deutschen Feuilletons zeigen sich schlichtweg begeistert, allen voran Eberhard Rathgeb in der Zeit, der den Text als „so großartig beiläufig, warmherzig und klug, so entschlossen, gekonnt und frei“ beschreibt, dass die Lektüre ein echter menschlicher Gewinn ist.

Die große Überraschung ist nicht so sehr das titelgebende Geheimnis, das der Autor bereits auf der ersten Buchseite lüftet, sondern die Tatsache, dass dieser stets zurückhaltend und reflektiert wirkende Autor so freimütig und schonungslos Privates aus seinem Leben und seinen Beziehungen preisgibt. Mein glückliches Geheimnis ist keine Autofiktion wie viele Romane der letzten Jahre, sondern, so Geiger, „ein autobiografisches Buch über das schwierige Unterfangen, seinen Weg durchs Leben zu finden“ (Hanser Video). Weiter ist es ein Buch über das Romaneschreiben und das leidenschaftliche Lesen und ein Buch über Arno Geigers Frau Katrin und die konfliktreiche Beziehung der beiden, die sich später, Hand in Hand mit dem Schreiben und dem Geheimnis, zunehmend glücklich entwickelt und die Geiger als „das Großartigste in meinem Leben“ bezeichnet.

Eine Autobiografie wollte er nie schreiben, und doch hat er im Grunde schon mit seinem höchst erfolgreichen Vaterbuch Der alte König in seinem Exil (2011) damit begonnen. Geiger beschrieb darin die Demenzerkrankung seines Vaters und wie nebenbei dessen Lebensgeschichte, die gescheiterte Ehe der Eltern, die Geschwister, den Versuch, in der Krankheit Nischen für Gemeinsamkeit aufzuspüren. Manchem davon begegnet man im neuen Buch wieder, mit verändertem Fokus.

Wer nun aber beim Wort „Geheimnis“ auch nur entfernt an pikante Enthüllungen aus einem Künstlerleben denkt, sollte ein anderes Buch lesen, denn Arno Geigers Bekenntnis klingt auf den ersten Blick sehr unspektakulär: „Mein glückliches Geheimnis bestand fünfundzwanzig Jahre lang darin, dass ich in Wien ausgedehnte Streifzüge machte und die an den Straßen stehenden, für Altpapier vorgesehenen Behältnisse erkundete auf der Suche nach für mich Interessantem.“
Und weiter: „Mir ist klar, das ist keineswegs alltäglich, obwohl es um Alltägliches geht, um eines der wenigen Dinge, die allen Menschen zugänglich sind: Abfall. Trotzdem muss ein Mensch, damit er sich aus freien Stücken so viele Jahre mit diesem Alltäglichen abgibt, ein wenig wahnsinnig sein. Selbstverständlich halte ich mich nicht für wahnsinnig. Aber der vom Wahnsinn freie Teil meines Verstandes sagt, dass ein Quäntchen Wahnsinn sehr wohl vorhanden sein muss. Ein glücklicher Wahnsinn, gibt der wahnsinnige Teil in mir zur Antwort. Fünfundzwanzig Jahre. […] Mittlerweile habe ich diese Tätigkeit aufgegeben. Aber ein Vierteljahrhundert auf der Straße, beschäftigt mit dem, was andere Menschen wegwerfen, fügt einer Person Dinge hinzu, die man nicht einfach wieder entfernen kann. Ein Vierteljahrhundert war Weggeworfenes Teil meines Lebens. Die Persönlichkeit kann nur für kurze Zeit unabhängig bleiben von dem, was sie tut. […] Meine Runden haben mich als Mensch so sehr geprägt, wie sie mich als Schriftsteller geprägt haben. Und das ist das Beste, was ich darüber sagen kann.“ (S. 11f)

Mit zufällig gefundenen Bananenkartons voller Bücher beginnt diese Epoche, in der Arno Geiger die Stadt und ihre Altpapiercontainer mit dem Fahrrad erkundet, immer auf der Suche nach weggeworfenen Büchern, Fotografien, Zeitschriften und Zeitungen. Die Funde werden sortiert und später am Flohmarkt oder im Auktionshaus verkauft. Ein Glück und gleichzeitig ein Verstoß, nicht gegen Gesetze, aber gegen Konventionen, zumindest unter Akademikern und in der eigenen Familie, die ihm hoffnungsvoll eine höhere Bildung ermöglicht hat. „Dass ich mich jetzt Teilzeit in die Gosse warf, empfand auch ich insgeheim als Grenzüberschreitung nach unten.“ (S. 21) Und doch: Einmal pro Woche Frischluft, Bewegung und ein leichter Nebenerwerb für den angehenden Schriftsteller, der noch nichts veröffentlicht hat, aber frei sein will für seine Berufung. „Schreibend setzte ich auf ein Spiel, dessen Regeln ich nicht kannte. Ich wusste lediglich aus der Lektüre einschlägiger Biografien, dass dieses Spiel für Verlierer eine besondere Strafe bereithält: echtes Scheitern. Deshalb arbeitete ich mit dem guten Willen eines jungen Menschen, der weiß, dass sein Unternehmen schiefgehen wird, wenn er nicht sein Bestes gibt. Aber mulmig war mir bis hin zur Angst.“ (S. 18)

Zu den Bücherfunden, mehr oder weniger wertvoll, kommen Briefmarkensammlungen, historische Wertpapiere, alte Comics, Prospekte, Druckgrafiken und Plakate. Dazu ein weiterer, äußerst nachhaltiger Aspekt: „Ich las irrsinnig viel, ich las buchstäblich, was mir der Zufall auf den Schreibtisch warf.“ (S. 19)
Irgendwann tauchen in den Papierkonvoluten wiederholt private Briefe und Tagebücher auf, einmal auch medizinische Protokolle. Echtes Leben, ungekünstelt und neu für den „Jungen, der ein Wörterbuch verschluckt hat“ und nichts vom Leben weiß (S. 26), und doch ist für ihn die Möglichkeit, aus dem Lesen all dieser Texte eine ganz persönliche Poetik zu entwickeln, noch nicht absehbar.
Seine allererste Lesung absolviert der Jungautor beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt 1996 vor laufenden Fernsehkameras: „Hinterher stand ich ziemlich nachdenklich in einer Ecke, einige bedruckte Papierblätter unter den Arm geklemmt, und wusste, dass das laue Urteil, das ich erhalten hatte, mehr betraf als nur den Text.“ (S. 33)
Das Geschäft mit dem Altpapier, je erfolgreicher es wird, finanziert das erfolglose Schreiben und verhindert es zugleich, und als dann auch noch die erste Beziehung endet, scheint das Leben komplett stillzustehen. „Ein junger Mann mit Schmerzen sein, ist eine Ganztagsbeschäftigung“, formuliert Geiger später in seinem Roman Selbstporträt mit Flusspferd (2015). Diesen schlichten, freundlich-ironischen Ton gilt es erst noch zu finden. Der Gefahr, nur um sich selbst zu kreisen und seine Wunden zu lecken, entflieht der Autor mit einem Aufenthaltsstipendium nach Berlin, wo jedoch – neben der Literatur – die Achterbahn der Gefühle erst richtig in Fahrt kommt: „Als ich im Herbst eingeklemmt war zwischen mehreren Frauen, bekam ich vom Nervenstress Hautausschlag. Ich war auf ein Bohemeleben aus gewesen und musste mit großem Bedauern feststellen, dass ich dem nicht gewachsen war. Nicht mein Metier.“ (S. 43)

1997 erscheint der erste Roman Kleine Schule des Karussellfahrens im renommierten Hanser Verlag, bei dem Geiger bis heute unter Vertrag ist. Eine Nachwirkung der Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, obwohl dessen Jury sich für seine Erzählung Das Kürbisfeld nicht begeistern konnte. Das Debüt wird von der Kritik positiv aufgenommen, dann folgen die weniger beachteten Bände Irrlichterloh (1999) und Schöne Freunde (2002), bevor der Verlag 2005 nach langem Zögern Geigers Roman Es geht uns gut veröffentlicht. Ohne große Erwartungen, die (Nach-)Nominierung für den Deutschen Buchpreis verdankt der Autor einer privaten Initiative seines Lektors, zur Preisverleihung fährt er in einem geliehenen Anzug, denn zu gewinnen scheint unwahrscheinlich. Und dann der Erfolg „mit Poltern und Getöse“. Die Geschichte des unentschlossenen jungen Mannes Philipp Erlach, der von seiner Großmutter eine Villa voller düsterer Familiengeschichte erbt, an die er aber nicht erinnert werden will, verkauft sich nach der Preisverleihung pro Tag so oft wie der Vorgängerroman insgesamt, und das viele Monate lang. Zurück in Wien, setzt der nunmehr berühmte Autor seine Runden mit dem Fahrrad fort, doch „waren sie früher Sinnbild gewesen für den drohenden Schiffbruch“, verändert sich nun die Perspektive, nun stehen sie für Eigensinn, für unkonventionelle Wege, sie werden sozusagen respektabel. Trotzdem bleibt der herumstreunende Schriftsteller an den Mülltonnen unerkannt, denn „so jemandem schaut man nicht ins Gesicht“ (S. 107).

Die Idee zu seinem letzten Roman Unter der Drachenwand (2018) ging, wie Geiger immer wieder erzählte, auf einen Zufallsfund zurück, auf Briefe, konkret die Korrespondenz eines Lagers der Kinderlandverschickung in Schwarzindien am Mondsee während des Zweiten Weltkriegs – Kinderbriefe, Elternbriefe, Behördenbriefe. Viele Hunderte von Aufzeichnungen aus diesen Jahren habe er zusätzlich gelesen. Dies glaubt man als Leser:in, sobald man es weiß, deutlich in der Ausdrucksweise einzelner Protagonisten zu hören bzw. in deren Briefen zu lesen. Und Briefe gibt es in diesem spannenden Zeitgeschichte-Roman ungewöhnlich viele. Nun, mit Geigers glücklichem Geheimnis vor dem inneren Auge, liest sich nicht nur dieser Roman mit veränderter Aufmerksamkeit, man beginnt unwillkürlich, auch in früheren Werken nach den Spuren fremder Leben und ihrer literarischen Aneignung zu suchen.

Aber so einfach ist die Sache dann doch nicht: „Nachrichten von der Rückseite unserer Gesellschaft“ nennt Arno Geiger heute die Aufzeichnungen, die er im Lauf der Zeit im Müll gefunden und gelesen hat. Es brauche viele Jahre, um ein gutes Gespür zu bekommen für den gesellschaftlichen Kontext, in dem man sich als Mensch und als Schriftsteller bewege, und um das auch nutzbar zu machen für die Literatur. Wobei der Einfluss auf ihn als Person, als Mensch der Vorrangige sei. Indem er die Perspektiven auf die Welt erweitere, habe er auch als Schriftsteller mehr zu sagen: „Man kann nicht zehntausende Seiten Privatbriefe lesen über so ziemlich alles, was vorkommt, ohne dass die Lektüre etwas mit einem macht. Irgendwann weiß man über das Leben der Menschen einfach mehr als andere, das geschieht beiläufig, man könnte sich dem schwer entziehen. Nach und nach sinken die Dinge ab in den festen Bestand, das Wissen verwandelt sich in Gespür und Haltung. Dann betrifft es die ganze Person. Heute, selbst wenn ich über sehr Persönliches spreche, gibt es eine Verbindung zu dem, was ich dem Abfall verdanke. […] Und wers versteht, der verstehts. Und wer findet, dass meine literarischen Leistungen jetzt geschmälert sind: Na wennschon. Mein Glück hängt nicht davon ab, ich lege keinen Wert darauf, Leistung zu erbringen, ich lege nur Wert darauf, mein Leben besser zu verstehen. Ich mag meine Bücher, ganz bestimmt, sie sind aus nichts anderem hervorgegangen als meinem Leben. Aber sie sind nicht das Wesentliche. Ich lebe, um zu leben. Und neben diesem Leben, das zu leben ist, ist das Werk ein Nichts. Schwerer, als ein gutes Buch zu schreiben, ist es, nicht verbittert zu werden.“ (S. 118f)

Verbittert wirkt Arno Geiger keineswegs, ganz im Gegenteil! Schließlich ist ihm vieles gelungen – viel mehr, als von einer österreichischen Schriftstellerlaufbahn statistisch zu erwarten ist: Gute Romane sind geschrieben, und das glückliche Geheimnis scheint sich auf wunderbare Weise in ein glückliches Leben verwandelt zu haben. Als Leserin hoffe ich, dass dieses erstaunliche Buch, das Geigers Arbeit in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt, nicht sein letztes sei!

 

Sabine Schuster, Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien (Abschluss 1992), Tätigkeit für die schule für dichtung in Wien, die IG Autorinnen Autoren und den Folio Verlag, ab 1993 im Team des Literaturhaus Wien, von 2001 bis 2023 Redakteurin des Online-Buchmagazins.

Arno Geiger Das  glückliche Geheimnis
Autobiografie.
München: Hanser Verlag, 2023.
240 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-446-27617-8.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Rezension vom 15.01.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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