#Prosa

Anna nicht vergessen

Arno Geiger

// Rezension von Alexander Kluy

Es ist merkwürdig, ja geradezu sonderbar, dass sich eine Debatte entzündet an einem ruhigen, eher stillen Dichter. An stillen Texten. An Texten, die so still sind und so überlegt dargeboten werden wie die drei mal vier Geschichten in Arno Geigers jüngstem Buch.

Auf der einen Seite stehen da jene, die in ihm, der 2005 den zum ersten Mal verliehenen Deutschen Buchpreis erhielt, ein übergroßes Talent sehen, das mit dem Roman Es geht uns gut endlich, endlich bewies, was es kann und lange verheißen hatte. Und auf der anderen Seite der Kritikerschranke jene, die schon damals, vielleicht leiser, die Geschichte um Philipp und ein ererbtes Haus für überkonstruiert und nervig hielten und so manches für leeres Handwerk. Auf jeden Fall für Handwerk. Sie fanden ihr Urteil im neuen Erzählband bestätigt und attestierten den Texten inhaltliche Minderkomplexität und irisierende Verschwommenheit, einen Mangel an interessanter Psychologie und eine ungenau verrinnende Sprache.

Nun ist es bei belletristischen Büchern aus dem Münchner Hanser Verlag in den meisten Fällen so, dass der Schutzumschlag, wie stets von Peter-Andreas Hassiepen gestaltet, bereits visuell einlöst, was die bedruckten Seiten erwarten lassen. Und hier ist, Detail eines Gemäldes des Künstlers Henning Gierke, eine oberhalb der Taille unbekleidete junge Frau zu sehen, so weiß wie das Laken, das sie über die Couch drapiert hat, mit einem Blick, dem Betrachter zugewandt, den distanziert zu nennen untertrieben wäre. Hier spielt Kälte mit hinein und Fremde und Fremdheit und – auch das – Entblößung, welche ungern zugelassen wird. Und Verletzbarkeit.

Und all dies findet sich auf den 256 Seiten dieses Buches. Auch wenn die Einteilung in „Tage“ – „Jahre“ – „Leben“ irritiert und bis zum Ende nicht ganz schlüssig anmutet. Denn unter diese drei Begriffe sind die jeweils vier Erzählungen gestellt. Wird dadurch ein überwölbendes Thema gebildet?
Dafür sind die Geschichten in Inhalt, Erzählweise und Erzählsprache zu unterschiedlich. In der Auftakt- und Titelgeschichte droht Ella, Annas Mutter, über ihre Tätigkeit als erotischer Lockvogel einer Detektei, die sich auf den Treuetest von Ehemännern spezialisiert hat, die eigene kleine Tochter zu entgleiten. Überall in der Wohnung kleben die Erinnerungszettel „Anna nicht vergessen“. Und tatsächlich sind die Reibereien, Konflikte, Ablehnungen, die Frustrationen, Abweisungen und emotionalen Verwundungen dieses Paares wunderbar präzis eingefangen.

Auch in den anderen Erzählungen finden sich die kleinen und großen Katastrophen gelebten Lebens. Da freut sich in „Koffer mit Inhalt“ ein Bahnbeamter, jahrelang für die Versteigerung von liegen gelassenen Fundstücken zuständig, auf eine Bahnreise mit seiner Frau durch Peru. Doch infolge der für dieses Land notwendigen Impfungen erkrankt seine Frau und verstirbt schließlich nach qualvoll ungustiös verbrachter Zeit. Die Wut des Mannes richtet sich gegen die düstere Parterrewohnung, die Einrichtung, gegen das gemeinsame Leben. Bis er eine Art Epiphanie erlebt und selber bei einer Versteigerung einen Koffer mit unbekanntem Inhalt erwirbt. In „Abschied von Berlin“ findet ein Kinovorführer, so erfolglos im Beruf wie in seinen Beziehungen, kurz vor der Abreise von Berlin zurück nach Wien ein einziges offenes Ohr beim Sanitärinstallateur, der wegen einer Reparatur in die Wohnung einer Kellnerin kommt, die den Vorführer bei sich hat übernachten lassen, ohne dass etwas zwischen ihnen passierte. Und er präsentiert nun dem Handwerker eine Liebesgeschichte, die sich für ihn selber stabilisierend auswirkt, in anderen Ohren allerdings als Lügengeschichte erscheinen würde. Da gibt es die unverstellte und zurückgewiesene, auf Tonband gesprochene Sehnsucht („Also, das wär’s so ziemlich“): lakonisch, traurig, verstummend. Oder die Verschränkung von Gegenwart und Erinnerung – in „Doppelte Buchführung“ reflektiert sich die Rettung eines herzkranken Buben in der lieblosen Kindheit des behandelnden Arztes.

Eben dort, in diesem Grau der exakt beobachteten Zwischensphären, ist der in Vorarlberg geborene und heute in Wien lebende Arno Geiger am Besten und am Überzeugendsten. Dort wo er Privates und Allgemeines, die Mikrogeschichten der Emotionen, zumeist der unausgesprochenen, unausgelebten, irgendwie ans Ende gelangten, fallen gelassenen Gefühle, mit der Großgeschichte der Gesellschaft verschränkt, ohne dass dies zum aufdringlichen Manierismus wird.
Was verwundert, ist die große Spannbreite der eingesetzten Mittel, vom Gedächtnisprotokoll bis zur Familienszene oder einer prosaischen Auflistung. Geiger erweist sich als Autor, der ein ausgeprägtes, schmiegsames Gehör für gesprochene Sprache besitzt – in der deutschen oder österreichischen Gegenwartsliteratur alles andere als häufig anzutreffen. Bei diesem so sorgfältig seine Texte konstruierenden und planenden Autor steht nur zu befürchten, dass er wieder still wird. Und mehrere Jahre benötigt, um ein neues Buch fertig zu stellen.

Arno Geiger Anna nicht vergessen
Erzählungen.
München, Wien: Hanser, 2007.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-446-20911-4.

Rezension vom 13.02.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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