Eine jener Erscheinungen, die es Gauß in seinen „Albumblättern“ am meisten angetan hat, ist das Phänomen des Erfolgs jener Amerikanerin, von der seit einigen Jahren tagtäglich alle zwei Minuten eine fix installierte Kamera ein Foto von sich in ihrer Wohnung schießt, das sogleich ins Internet gestellt wird. Der banale Alltag der jungen Frau hat mittlerweile ein Millionenpublikum und so auch wohl die eine oder andere Dollarmillion eingebracht. Jenny, so ihr Name, erhebt natürlich keinerlei Kunstanspruch wie etwa Heidi Harsieber vor gut einem Dutzend Jahren. Jenny ist es darum zu tun, ihr „real life“ zu zeigen. Der Vergleich mit Harsiebers Fotokunst macht die Absurdität dieses Wirklichkeitsanspruchs deutlich. Darum ist es auch Gauß zu tun. Er macht im Grunde nicht mehr, als ausgesuchte gegenwärtige Erscheinungen „nachzuerzählen“, zu Ende zu erzählen, und entblößt sie schon allein dadurch in ihrer Groteskheit oder Banalität. Der medialen Entblößung Jennys liegt nach Gauß nicht der postulierte Wirklichkeitsanspruch zugrunde – es ist viel banaler: „Nur in dem sie sich öffentlich begehbar macht, kommt sie zur Ruhe. Wie sich Kinder fürchten, wenn sie allein im dunklen Zimmer liegen, glaubt Jenny, daß ihr nichts passieren kann, solange sie im Bild bleibt.“
Das ist das literarische Nach-Denken des Essayisten Gauß: Er nimmt die Dinge wörtlich, hält im permanenten Nachrichtenstrom inne und spürt ihrer Bedeutung hinter der medial präsentierten Fassade nach. Im Lichte dieser kritischen Zeitgenossenschaft sieht der Leser viele der ihm meist bekannten Phänomene neu, die ersten beiden Abschnitte des Buches beinhalten so Unterschiedliches wie Samenbanken, Rauchverbot in amerikanischen Todeszellen oder Transplantationstechnologie. Gemeinsam ist den Miniaturen – neben ihrem hohen Unterhaltungswert – die stets durchscheinende Haltung des Autors, die manche Passage beinah zum Pamphlet werden läßt. Polemisch und bissig wird es, wenn Gauß auf das Diktat des Marktes oder andere Zwänge zu sprechen kommt. Da werden Ärzte, die künstliche Befruchtungen mit Samen von Genies durchführen, zu „klinischen Pornographen der rassischen Verbesserung“, die „Beauty-Industrie“ und die „unbarmherzige Fitneß“ zu einem „Kriegskult“.
Ein wenig scheint sich Gauß in die Tradition Canettis zu stellen, wenn er zur Ergründung bestimmter Zeiterscheinungen zu ethnographischen Mitteln greift (und etwa zu den „Meuterern der Echtzeit“ auf die abgelegene Pazifikinsel Pitcairn führt). Mehr noch als Ethno- betreibt Gauß jedoch Logographie, die Sprache ist ihm die letzte Instanz („die Sprache weiß es“ – also mehr Kraus als Canetti). Dem „Verschwinden der Sprache“, so der Titel eines Kapitels, hält er manchmal anachronistische Ausdrücke entgegen („den Touristen zu willfahren“). Aber das ist kein Sprachkonservatismus, Gauß bewahrt eine wohltuende Dezenz. Und das verträgt sich auch gut mit der erwähnten Deutlichkeit. Denn schließlich ist Elton Johns „Candle in the Wind“ tatsächlich „der reinste musikalische Analphabetismus, ein flagranter Fall von akustischer Idiotie“.