Dieses Gefühl von Überwältigung beruht natürlich auf einem logischen Fehler: Im Nachhinein Wahrscheinlichkeiten auszurechnen macht nie Sinn. Weiters reizt es dazu, dem eine, wenn’s schon sein muss, dann verträglichere Sammlung an Miniaturen entgegenzusetzen, aus lauter nichtigen, folgenlosen oder zumindest im Großen und Ganzen unbedeutenden, also ganz normalen Augenblicken – weil das wohl besser verdaulich wäre und weil sich auch hier schöne (stillere) Effekte ergeben können.
Florian Gantner hat das in Angriff genommen, herausgekommen ist Sternschnuppen der Menschheit, ein schlanker Erstling, auf dessen Cover „Roman“ steht, während drinnen kurze und kürzeste, manchmal bloß ein paar Zeilen lange Episoden scheinbar unverbunden aneinandergereiht sind. Scheinbar, denn viele Figuren haben nach ihrem ersten kurzen Auftritt später einen zweiten oder dritten, oft ganz unbemerkt. Da wäre der karrierefixierte Immobilienmakler Gerald Widmayer, der in einem Freibad einen seltsamen Kerl kennenlernt: „Obwohl der Mann wie ein Sandler aussah, strahlten seine Augen Glück aus.“ Später trifft man Widmayer wieder; mittlerweile Aussteiger und zu Fuß auf Selbstsuche. Oder der Häftling Josef Poschenriedel, der sich mit seinem afghanischen Zellenkollegen anfreundet und später unvermittelt zum Traumatherapeuten wird. Oder der erfolgreiche rechtsradikale Jungpolitiker, dem im Verlauf des Buches überraschend eine Torte begegnet.
Brennpunkt der Geschichten ist ein sommerlich heißes Wien, seine Gastgärten, Supermärkte, öffentlichen Plätze, über die Gantners Episoden langsam ein lockeres Netz spannen. Dabei finden sich zahlreiche, freilich gehörig umgemodelte Anklänge an Zweig: Während sich die Schlacht von Waterloo bei Zweig in einer „Weltminute von Waterloo“ entscheidet, bemerkt Maria Haböck nicht einmal, dass ihr hochbegabter kleiner Sohn im Wohnzimmer mittels Knetmasse die Schlacht von Austerlitz nachstellt, und latscht mitten hinein. Während in „Der Kampf um den Südpol“ die Augen der Welt auf Scott und Amundsen gerichtet sind, meistert der 13-jährige Fabian Ohlig endlich einen Frontside-Heelflip (irgendetwas mit einem Skateboard) – und keiner sieht’s.
Im Tonfall ist das alles dem Vorbild angenehm entgegengesetzt: Gantner bemüht sich um nüchterne Berichterstattung (Sternschnuppen, so heißt es programmatisch, seinen ja streng genommen „heiße Luft“, „nichts Besonderes“). Zwischendurch wirkt das leider bemüht, dazu kommen einige holprige Stellen; aus dem Chronik-Teil übernommene Zeitungsphrasen bleiben mitunter auch im Roman Phrasen.
Alles in allem bieten die „Sternschnuppen“ trotzdem eine kurzweilige Lektüre voller kleiner, trockener Pointen; am Ende wird das alles mit einer selbstironischen Geste weggewischt. Dazu zieht sich noch eine schöne Motivkette durch den Band: zur Dauer eines Augenblicks, zum Zwinkern als dessen Anfang und Ende, zu seiner Abbildbarkeit in der Literatur – davon hätte man gerne mehr gelesen (wie überhaupt – z.B. in puncto Figurenzeichnung – manchmal auch mehr mehr ist). Amüsant ist das dem Band angefügte Personenregister: Hier kann man sich noch lange die Lebensläufe zusammenklauben, sein eigenes behagliches, sommerliches Panorama basteln.