#Prosa

Niemand schreit

Petra Ganglbauer

// Rezension von Eva Magin-Pelich

Petra Ganglbauers Niemand schreit ist kein Roman, aber auch keine Lyrik. Es ist ein vielschichtiger Text, der sich sowohl in der Form als auch im Verständnis gegen Konventionen sperrt. Formal handelt es sich um Prosa, doch auch wenn der Begriff sich aus der „prosa oratio“, der „geradeaus gehenden Redeweise“ ableitet, kann dies von Ganglbauers Text nicht gesagt werden.

Diese Prosa der 1958 in Graz geborenen Autorin und Radiokünstlerin geht um viele Ecken, läßt sich nur über Assoziationen erschließen und läßt dabei verschiedene Lesarten zu. Der Leser kann sich nie sicher sein, ob er die intendierte Deutung erkannt hat. Die Freiheit der Mehrdeutigkeit wird zwar beabsichtigt sein, doch hinterläßt sie auch eine Art Unfrieden mit der Lektüre, denn wir wissen nicht, haben wir Petra Ganglbauer oder uns selbst gelesen? Und begeben uns damit in die Gefahr, von der schon das Goethewort spricht: „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.“

Versucht man sich klarzumachen, was eigentlich in dem Text geschieht, ergibt sich folgendes Bild: das berichtende, weibliche Ich wird von einer Gruppe anderer Menschen festgehalten und indoktriniert, einmal scheint eine Flucht zu gelingen, doch schon bald stellt sich heraus, dass die Flucht von kurzer Dauer war. Interpretatorisch drängen sich diverse Auslegungen auf: Bilder von Sekten und Gruppenzwang, in einer mehr politischen Interpretation könnte man eine Darstellung des politischen Klimas Österreichs erahnen, oder aber als gesellschaftskritische Deutung kann eine Anklage gegen Kommerz und Werbung aus dem Text heraus gelesen werden. Im zweiten und letzteren Fall geht es um Gleichmacherei, individuelle Identitäten sind nicht gefragt, alle sollen auf die gleiche Art funktionieren und nichts kritisieren, erreicht werden kann dies durch die Diktatur des Konsums, denn dieser funktioniert wie eine Gehirnwäsche: alle wollen das gleiche haben und das gleiche leben.

Für alle drei Lesarten finden sich Schlüsselwörter im Text, ich tendiere jedoch zur gesellschaftskritischen und politischen Deutung, auch aufgrund der vorgestellten Worte Hannah Arendts: „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“ Damit wird die Richtung des Ungehorsams, der Individualität, das Aufbegehren gegen die Gleichmacherei schon vorgegeben. Einzelne Passagen von Niemand schreit hinterlassen eine Ahnung dessen, wie es in diktatorischen Gesellschaftssystemen sein muss, lassen die Ohnmacht des Einzelnen spüren, den Zwang, sich dem Willen zum Überleben zu unterwerfen. So kann man unter der Überschrift Einsichten Verdacht lesen:

Nach Stunden betreten sie den Raum.
Einer. Eine. Einer. Einer. Eine.
Diejenigen, die noch kein Buch in Händen halten.
Bekommen. Eines. Verpaßt.
Es sind Bücher. Der Kontrolle.
Der Eroberung.
Der Entwortung.
Des Rekrutierens.
Der Unterwanderung.
Des Fanatismus.
Der Reinigung.
Des mentalen Kammerjägertums.
Der Ausrottung.
Der planetarischen Vorbereitung und Verbreitung.
Sie erzählen nichts. Diese Bücher erzählen keine Geschichten.
Sie weisen an. Sie weisen aus.

(Wir dürfen nicht aufhören, den Bereich der planetarischen Eroberung einzubeziehen. Es gibt eine richtige Reihenfolge, sie lautet: Planetarische Eroberung; Verbreitung von der Gruppe aus, um Leute zu interessieren; viele Leute in der Gruppe und das sich daraus ergebende Gesamteinkommen.)

Passagen wie diese wirken beängstigend.
Wie verhält es sich nun mit der Sprache? Am gerade genannten Zitat ist zu sehen, dass die üblichen Konventionen von Grammatik betreffs Satzbau und Zeichensetzung von Ganglbauer missachtet werden, sie sich konsequent den sprachlichen und damit gesellschaftlichen Normen entgegen stellt. Eingestreut sind neben Begriffen aus rechtsgerichteter Politik und Neonazitum wie „Asylantenflut“, „aufklatschen“ oder „abfackeln“, Zitate aus einem Traumlexikon, Fachbegriffe aus der Werbesprache, sonstige englische Wörter – manche der Begriffe werden erläutert. Der Text lebt nicht von einer speziellen Ästhetik, nicht vom schönen Klang der Wörter oder des Stils, sondern von dem, was und wie es beim Leser ankommt. Wichtig ist die Wirkung, die sich manchmal erst beim lauten Lesen über die Zeichensetzung vollständig entfaltet. Und es sind die Wörter selbst, jedes von ihnen wiegt schwer, keines ist dem Zufall überlassen, sie alle werden zu Schlüsselwörtern.

In den Text eingeschoben ist eine sich wiederholende Passage. Dieses Textstück ist immer, außer am Ende, grau unterlegt und unterscheidet sich somit noch einmal optisch. Der Text dieser Seite entspricht grammatikalisch der Norm und könnte damit über Form und Inhalt ein Ankommen in der Konvention artikulieren. Das Ich ist mit sich und der Welt, der Gruppe, ausgesöhnt, es beschreibt seine Zufriedenheit und einen Zustand, in dem „niemand schreit“. Doch was wie das Ende eines Albtraumes klingt, ist eine Täuschung und irreal. Real wird er erst am Ende, signalisiert durch den Wegfall der grauen Unterlegung. Und, obwohl diese Passage keine Änderung im Inhalt erfährt, zeugt er nun nicht mehr von Angekommensein, sondern gibt einen Hinweis, dass der Kampf um Individualität verloren ist und der Albtraum begonnen hat.
Insgesamt kann festgestellt werden – auch wenn es den Leser normalerweise erfreut, sich mit vielschichtigen Texten zu beschäftigen, die ihm Raum und Anreiz zum Nachdenken geben – dass sich Niemand schreit durch die Überfrachtung dem breiten Publikum eher entzieht, denn es wird wohl ein geringer Teil der Leserschaft sein, der sich mit den 129 Seiten des Prosabandes von Petra Ganglbauer auseinandersetzt. Letztendlich ist dies schade, denn zumindest ein sich bewußt werden über die angesprochenen Problembereiche wäre sicherlich nützlich.

Petra Ganglbauer Niemand schreit
Prosaband.
Wien: Milena, 2001.
131 S.; geb.
ISBN 3-85286-093-8.

Rezension vom 29.10.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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