#Roman

Tränenpalast

Petra Ganglbauer

// Rezension von Peter Stuiber

Namen von Lokalen spiegeln oft die Geschichte einer Stadt und ihrer Bewohner. Berlin besitzt unzählige Bars, Restaurants, Kabarettbühnen etc. mit schrillen, geschichtsträchtigen Namen. Den Tränenpalast zum Beispiel. Im zentralen Friedrichsbahnhof wurde früher der Grenzverkehr zwischen der DDR und der BRD geregelt. Die langen Korridore des palastgroßen Bauwerks gaben jahrzehntelang die Kulisse für tragische Abschiedsszenen ab. Im Tränenpalast von damals befindet sich heute übrigens eine gleichnamige Kabarett- und Theaterbühne.

Doch genug mit (Literatur-)Topographie. Tränenpalast nennt sich auch – und sicherlich nicht zufällig – der erste Roman Petra Ganglbauers. In ihrem Buch nähert sich die Autorin den Erlebniswelten der Kindheit. Gleich zu Anfang spielt die Erzählerin mit dem so genannten autobiografischen Pakt: „Sagen wir, ich hieße Laura und wir hätten wenig Zeit!“ (S. 5) Diese Laura, Alter Eego des Erzähler-Ichs, „sammelt Träume“ (S. 7), „bastelt an ihrer Kindheit“ (S. 8). Assoziativ reihen sich Bilder und Erlebnisse der Heranwachsenden aneinander: Puppenspielen, die Schule und danach das Schule-Spielen, die Freundinnen. Wer war oder ist diese Laura? Welche Rolle spielt sie? Wie reagiert sie auf ihre Umwelt? Von Beginn des Textes an immer wieder die Betonung des Rückzuges aus der als feindlich empfundenen Umgebung: „Es war, als zöge ihr jemand die Lebenssäfte aus den Adern.“ (S. 10) Und: „[…] manche Menschen schneiden mir die Luft ab, dann fühle ich mich zusammmengepresst, kleingehackt, pieps.“ (S. 88)

Bedrohungsszenarien werden rekonstruiert. Es ist eine aggressiv-männliche Welt, in der sich das Mädchen zurecht finden muss: Franz Ratzwohl, am Samstag stets Gast bei der Großmutter, kohlrabenschwarz und Kettenraucher, schnappt das Kind (und das zwei Tage vor Krampus!), umarmt und küsst es, steckt es in die Butte und schleppt es in den Keller. Später dann der Exhibitionist im Park: „Wir näherten uns / Der Mann hielt den ausgepackten Teil / Wir näherten / seiner selbst / Wir / das rosafarbene Ding / Wir gingen / mit beiden Händen. […]“ (S. 45) Hilflos ist Laura Grapschereien ausgesetzt, wehrt sich nicht gegen den Mann mit dem „Langfinger“: „Sie tut so, ist peinlich und niemand darf es. Psst. Niemand, wie peinlich und Angst.“ (S. 60) Vertrauen entsteht in dieser Welt erst gar nicht, weder Vertrauen in sich selbst noch in andere. Kommunikation scheitert oder findet nicht statt.

Diesen Erinnerungsfetzen werden in Tränenpalast Versatzstücke der modernen Welt (Internet, Werbung, Ratgeber, Annoncen etc.) gegenübergestellt. Denn heute hat man keine Zeit für Tränen und kommt schnell zum persönlichen Glück. Wer etwa zu keiner Beziehung fähig ist, kann es noch immer unter „www.love.at“ versuchen. „Raucher? Höchstalter? Gewicht? UND SCHWUPPDIWUPP“ (S. 78). So einfach geht das. Gegen Ende des Textes spaltet sich Laura in verschiedene Ich-Projektionen auf. „Irgendwann ist mein Körpergefäß zu klein geworden für diese ausgewachsenen Gefühle.“ (S. 97) Zum Schluss ertrinkt das Spiegelbild der Ich-Erzählerin, wird ausgelöscht. „Das Leben geht weiter.“ (S. 114)

„Die Vergangenheit ist eine unausgesetzte Unruhe.“ (S. 80) Dieser Satz beschreibt treffend die Rastlosigkeit von Petra Ganglbauers expertimenteller Prosa. Man könnte sie mit einem Kaleidoskop vergleichen: Jede Bewegung verursacht ein neues Bild, keines bleibt bestehen. Doch die Steine sind in diesem Kaleidoskop einer Kindheit gebrochen: Sie fügen sich nicht zu einem harmonischen Bild. Denn das wäre ohnehin nur ein trügerisches.

Petra Ganglbauer Tränenpalast
Roman.
Wien: Milena, 1999.
134 S.; geb.
ISBN 3-85286-067-9.

Rezension vom 11.11.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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