#Roman

Aufruhr der Meerestiere

Marie Gamillscheg

// Rezension von Angelo Algieri

Mnemiopsi leidyi ist der fachliche Begriff für die Meerwalnuss, die zu den Rippenquallen zählt. Im Gegensatz zu den uns bekannten, teils giftigen Quallen (Medusen), etwa im Mittelmeer, ist die Meerwalnuss für den Menschen beim direkten Kontakt ungefährlich. Und dennoch bereitet sie in Gewässern außerhalb ihres Habitats an den Atlantikküsten Nord- und Südamerikas Probleme, etwa im Mittelmeer, in der Nord- und Ostsee, insbesondere aber im Schwarzen Meer.

Sie ist ein Raubtier, das beispielsweise Fischeier frisst und so die Fischbestände drastisch reduziert. Oder sie verstopft die Abwasserkanäle von Atommeilern, wie in Schweden vorgekommen, und stellt somit eine Gefahr dar. Kein Wunder also, wenn das Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel Mnemiopsi leidyi zu den „berüchtigtsten invasiven marinen Lebewesen“ zählt. Andererseits ist sie ein sehr faszinierendes Geschöpf, da sie nicht nur wie die Quallen transparent und gallertartig durch das Wasser schwebt, sondern leuchtet: Spezialzellen produzieren Licht in Regenbogenfarben im Inneren der Meerwalnuss. Zudem ist sie ein Zwitterwesen, das in Schwärmen auftaucht.
Dieses possierliche, ambivalente Tierchen steht im Mittelpunkt der Forschung der Protagonistin Luise im Roman „Aufruhr der Meerestiere“ von Marie Gamillscheg, erschienen im Münchner Luchterhand Literaturverlag. Die steierische Schriftstellerin ist längst keine Unbekannte mehr. Die gebürtige Grazerin, Jahrgang 1992, hat 2018 mit ihrem beeindruckenden und lesenswerten Roman „Alles was glänzt“ debütiert und wurde im selben Jahr mit dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt ausgezeichnet.

Doch nun zum aktuellen Band: Die Forscherin Luise, Angestellte in einem namenlosen Forschungszentrum in Kiel, vermutlich das bereits oben genannte renommierte Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, wird von ihrem Chef zum Grazer Tierpark geschickt. Dort soll sie ihre Forschung zur Meerwalnuss vorstellen, denn der Tierpark möchte ein Aquariumshaus bauen, wo Besucher*innen Forscher*innen zuschauen können, wie sie arbeiten. Auch geht es um vertrauensbildende Maßnahmen zwischen dem Forschungszentrum und dem Tierpark, weswegen sie zwei Wochen in ihrer Heimatstadt verbringen soll. Doch ihr Verhältnis zur Stadt, die sie seit ihrem Studium kaum noch besucht hat, und zu ihren geschiedenen Eltern ist schwierig. Ihr Vater, ein ehemaliger Direktor an einer Schule, ist ein begnadeter Pädagoge, doch mit Luise herrscht zum größten Teil Sprachlosigkeit. Das geht soweit, dass er ihr seinen Herzinfarkt verschwiegen und sich in Behandlung in Nürnberg begeben hat – bei Luises Bruder, der in der fränkischen Großstadt lebt. Auch zu ihrem Bruder hat sie kein gutes Verhältnis. Er wirft ihr stets vor, sich beim Vater kaum gemeldet zu haben und sich für ihn nicht zu interessieren.
Beim „Aufsteirern“-Wochenende trifft Luise ihre ehemalige beste Freundin Leo. Beide fliehen vor dem Rummel und fahren zu einem weiteren ehemaligen Bekannten aus der Jugendzeit, der eine Brauerei bei Mürzzuschlag betreibt. Beim Abendessen wird auch Bier getrunken – vielleicht hat sich Leo Hoffnungen gemacht. Doch es kommt zu Unstimmigkeiten, stattdessen landen Leo und Luise im Bett: Sie streicheln sich in den Schlaf, losgelöst, die Kontrolle abgebend. Dabei stellt Luise den Vergleich zur Meerwalnuss her: Sie fühlt sich wie ein Meeresbewohner, der kein körperkontrollierendes Gehirn hat und die Informationen von der Außenhaut erhält. Ihr Gehirn, so resümiert sie, sei nun ein Organ unter vielen. Am darauffolgenden Tag geht es zurück in die Stadt und Luise gibt der Regionalzeitung ein Interview mit unkonventionellen Aussagen – und befürchtet danach sowohl die Kündigung ihres Jobs als auch die Streichung der Zusammenarbeit mit dem Tierpark. Doch es kommt mitnichten zum befürchteten Eklat, sondern zu einer Überraschung …

Marie Gamillscheg ist ein mehrschichtiger Roman über die heutigen Herausforderungen an Frauen gelungen, die in der Welt und in ihrem Job erfolgreich sind und Anerkennung erhalten, aber mit den Traditionen ihrer Heimat und dem Kleinklein von Familienverhältnissen konfrontiert werden. Die Selbstbestimmung Luises trifft erstaunlicherweise immer noch auf Widerstand: Da ist der Vater, der etwa sagt, wer kurze Röcke trage, sei selber schuld. Der Bruder, der mit dem Vorwurf, Luise kümmere sich nicht um den Vater, unterschwellig anspricht, dass es Angelegenheit der Frau sei, fürsorglich zu sein. Immer wieder werden die emanzipatorischen Errungenschaften Luises bitterlich unterminiert.

Eine weitere Besonderheit des Textes ist die Metapher der Meereswalnuss, die sich auf mehreren Ebenen wie ein roter Faden durchzieht.
Zum einen steht Mnemiopsis leidyi für die Sehnsüchte Luises, die diametral entgegengesetzt sind zu dem, was sie gerade erlebt. Sie ist sehr eigenständig und einsam, während die Meereswalnuss in Schwärmen auftritt und zudem das Wasser ihrer Umgebung filtert, Luise filtert ihre Umgebung kaum. Das wird textlich kongenial umgesetzt, indem zwischen innen und außen kaum getrennt, zwischen Realem und Vorgestelltem nicht unterschieden wird. Auch, dass die Forscherin Luise als sich als Individuum, als „Marke“ durchsetzen muss, steht der Meereswalnuss entgegen. Denn das Individuum zählt bei den Meeresbewohnern nichts, der Schwarm und das Leben selbst dafür um so mehr, das erinnert an das Kollektiv der Borg um Captain Jean-Luc Picard in der Serie Raumschiff Enterprise.
Auch auf einer Metaebene funktioniert die Meereswalnuss: Die Schriftsteller*innen sind wie Meeresbewohner und filtern ihre Umgebung auf der Suche nach Geschichten, sie schätzen die Temperatur, die kulturelle Nahrung einer Gesellschaft ab, verquicken sie mit ihren eigenen Erfahrungen. Im günstigsten Fall bereiten sie ihrem „Ökosystem“ Probleme, indem sie Zustände hinterfragen. Zudem können Autor*innen in ihren Texten unterschiedliche geschlechtliche Perspektiven annehmen. Und by the way ist das Zwitterwesen Meereswalnuss auch eine schöne Provokation für alle, die stur in binären Geschlechtern denken.

Kurz: Ein großartiger, heutiger Roman, der zusätzlich mit einem brillanten Stil besticht!

Marie Gamillscheg Aufruhr der Meerestiere
Roman.
München: Luchterhand, 2022.
304 S.; geb.
ISBN 978-3-630-87562-0.

Rezension vom 07.03.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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