#Roman

Der Richtsaal

Gerold Foidl

// Rezension von Ivette Löcker

Anfang der sechziger Jahre. Ein junger Mann, Gid Flora, kehrt in das Haus seiner Großeltern zurück. Er besucht den sterbenskranken Großvater, dem er als Kind sehr verbunden war und bei dem er die Nähe jener Zeit sucht. Mit der Großmutter trägt er einen letzten Kampf aus, verbal, im Wohnzimmer des Hauses. Dieser Raum ist der „Richtsaal“ des Familienclans, Ort der Machtbezeigungen und psychischen Menschenvernichtung.

In die Begegnungen mit den Verwandten flicht der Ich-Erzähler Rückblenden auf seine Lebensgeschichte ein. Er erzählt vom psychischen Terror, den seine Großmutter auf ihn ausgeübt hat, von der Außenseiterrolle, in die er als Kind der ungeliebten Tochter gedrängt wurde. Von seiner Mutter, die er sehr geliebt hat und die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. In klarer, distanzierter Sprache spannt sich das Netz der Familienbeziehungen auf, das die gegenseitigen Abhängigkeiten verdeutlicht.

Gid Flora macht sich nach der Auseinandersetzung mit seiner Großmutter auf, sich das Leben zu nehmen. Der Selbstmord scheint ihm der einzige Weg zu sein, sich zu befreien. Der Selbstmordversuch mißlingt. Er muß Wochen auf der Intensivstation verbringen, wird wieder geheilt. Es quält ihn nur eines: die Erinnerung an seine Zeit als 14jähriger in der psychiatrischen Klinik, in die auch alle Selbstmörder eingewiesen werden.

Hier endet der 1978 veröffentlichte Roman „Der Richtsaal. Ein Hergang“ von Gerold Foidl, wie sein Protagonist 1938 in Lienz / Osttirol geboren. Nach langem Suchen fand sich ein Schweizer Verlag, der den Roman publizierte, allerdings um den Preis, ihn zu kürzen. Die Schilderungen des Aufenthalts in der Psychiatrie, die „Psychiatrieanklage“ (Foidl), fielen der Lektorenzensur zum Opfer. Die Herausgeberin Dorothea Macheiner hat nun die verdienstvolle Arbeit geleistet, zum ersten Mal eine vollständige Version des Romans vorzulegen. Die Schilderung des Aufenthalts in einer geschlossenen Anstalt vermischt die Sicht des 14jährigen, der von seiner Großmutter und seinem Onkel, einem Arzt, eingewiesen wurde, und des mittlerweile 24jährigen Mannes. Die Praktiken der psychischen und physischen Folter werden nüchtern beschrieben, die Skrupellosigkiet von Ärzten und Pflegern, wenn es darum geht, sich Menschen gefügig zu machen. Gid Flora schafft es herauszukommen. Ob die Rückkehr zur Familie allerdings auch die Freiheit bedeutet, bleibt zweifelhaft.

Die Literaturkritik der 70er Jahre diskutierte die autobiographischen Züge des Romans unter dem Gesichtspunkt Dokument oder Fiktion. Die Werke der literarischen Strömung der „neuen Innerlichkeit“ der 70er Jahre fokussierten auf bis dahin vernachlässigte Themen: das Leben in der österreichischen Provinz, das Leben der „Beherrschten“. Der Roman von Gerold Foidl bietet eine immer noch aktuelle Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen, ist als Psychogramm einer durch Macht strukturierten Gesellschaft zu lesen. Die Einsichten und die stückweite Emanzipation von diesem Machtpool sind zu Lebzeiten des Autors kaum gewürdigt worden. So wünscht man dieser Neuauflage eine zahlreiche Leserschaft.

Gerold Foidl Der Richtsaal
Roman.
Hg. und Nachwort von: Dorothea Macheiner.
Innsbruck: Edition Löwenzahn, 1998.
184 S.; brosch.
ISBN 3-7066-2156-8.

Rezension vom 07.08.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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