#Roman

Die Wut, die bleibt

Mareike Fallwickl

// Rezension von Sabine Schuster

Die Salzburger Autorin Mareike Fallwickl hat mit Die Wut, die bleibt einen ebenso radikalen wie nachdenklichen Roman über die Gefühlslage von Müttern geschrieben, über das Familienleben in der Pandemie und über die Kluft zwischen den Geschlechtern, die in den zahlreichen Lockdowns noch weiter aufging als zuvor. Familien in zu kleinen Wohnungen, Homeoffice, Homeschooling und Kleinkinder, 24 Stunden am Tag. So auch bei Helene, jener Mutter von drei Kindern, die gleich auf der ersten Seite des Romans vom Abendessen aufsteht, auf den Balkon geht und sich ohne ein Wort in den Tod stürzt.

„Haben wir kein Salz“, hat ihr Mann Johannes zuvor gesagt, „und nicht einmal in Helenes Richtung. Sie hört das Du in seiner Formulierung, hört: Hast du es vergessen, hört: Du hast doch gekocht, hört: Stehst du noch mal auf, und alle diese Dus schlagen ihr die Kraft aus dem Körper. Matt und müde sitzt sie da, in ihren Ohren das schwere Dröhnen. Wie es anschwillt. Wie es körperfüllend wird, sodass da kein Platz mehr ist, nicht einmal für den nächsten Atemzug. Sie sieht, dass Lola im Salat stochert, so missmutig mit dem neuen Teenagergesicht, sieht, dass Maxi ein Kartoffelstück mit den Fingern in den Mund schiebt, statt die Gabel zu benutzen, sieht, dass Lucius beinahe sein Wasserglas umwirft, beide sind blond wie Johannes, präsent, fordernd, so bedürftig. Und laut. Alle sind laut, das ganze Abendessen ein Lärm, nein, der gesamte Tag, voll mit ihrem Rufen, ihrem Wollen, ihrem Streiten und Bitten und Brüllen, es legt sich in Helene ab in diesen langen Stunden, die sie heimlich herunterzählt. Bis zu dem Moment, in dem die Kinder im Bett liegen und ihr in der Küche die Tränen kommen vor Erschöpfung. Aber dann: das Füßetappen in der Nacht, die kleinen Bäuche, die sich unter die Decke schieben, das Schnarchen und Schnaufen und Grummeln direkt an ihr dran, die klebrige Wärme. Sie ist nie allein, nicht einmal für Sekunden. Es ist nie still, nicht einmal zum Luftholen.“ (S. 9)

Die Familie ist nach Helenes Tod im Schockzustand. Plötzlich fehlt ihnen alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit. Die beste Freundin Sarah, eine erfolgreiche Krimi-Autorin, die Helene wegen ihrer Familie zugleich beneidet und bemitleidet hat, springt vorübergehend als Ersatzmutter ein und versinkt bis zum Hals in einem Alltag, der ihr alles abverlangt und den sie, die hippe Singlefrau mit jungem Lover, sich nicht vorstellen konnte. Denn ihre Freundin Helene hatte Humor, da gab es selten ein Jammern und schon gar keinen Hilferuf. Auch die tote Helene, die nun als Erscheinung mit Sarah spricht, hat nichts von einer Märtyrerin, im Gegenteil, sie wirkt jung, ausgeruht und glücklich, fast wie damals in der gemeinsamen WG: glänzende Haare, funkelnde Augen, ein leichtes Grinsen in den Mundwinkeln. (S. 46)

Für Spannung und Staunen sorgt die Entwicklung der Tochter Lola, die sich zwar gemeinsam mit Sarah um ihre kleinen Brüder kümmert, gleichzeitig jedoch mit unbändiger Wut aus der vorgesehenen Mädchenrolle ausbricht. Nach einer Gewalterfahrung am Skaterplatz verpuppt sich die magersüchtige Teenagerin zur wehrhaften Straßenkämpferin, die mit ihrer Gang aus dem Selbstverteidigungskurs die Welt auf den Kopf stellt und als Rächerin misshandelter Frauen durch die nächtliche Stadt zieht. Als Leserin ist man mittendrin im Nahkampf, spürt die Euphorie, die Macht der körperlichen Gewalt, man ist mitgerissen und fühlt sich gleichzeitig ertappt, denn die Mädchen-Gang wird immer hungriger, die Strafaktionen brutaler. In der letzten Szene stehen Lola und ihre Freundinnen am Neujahrstag frühmorgens auf einem Bahnsteig, nach einem missglückten „Einsatz“ verlässt die Gruppe geschlossen die Stadt: „Mädchen wie wir werden sicher irgendwo gebraucht“, sagt Lola. „Vielleicht ist das zu groß. Zu heftig, zu gefährlich. Vielleicht sind sie zu naiv. Zu jung, zu verblendet. Vielleicht ist es aber auch genau das Richtige. Ein Anfang.“ (S. 372)

„Springen oder zuschlagen“ titelt die Rezensentin der taz provokant, um anschließend zu fragen: „Wie geht Selbstermächtigung?“ Diese zu erlernen ist die wahre Herausforderung aller Heldinnen dieses Romans. „Woke“ zu sein wie Lola ist dafür nur ein Anfang. „Es bedeutet, dass wir nicht schlafen, nicht alles hinnehmen, was ungerecht ist. Es bedeutet, dass wir wach sind und wachsam“, erklärt Lola, die das Missy Magazine liest und sich in der Schulbibliothek feministische Literatur ausleiht. (S. 33) Wie sehr ihr eigenes Hungern und ihr Hang zur Selbstverletzung eben jenem gesellschaftlichen Diktat folgen, dem sie entkommen möchte, versteht Lola jedoch erst im Zuge ihres Kampftrainings.

Auch die anscheinend toughe, reife Sarah mit ihrem privilegierten Autorinnen-Leben schämt sich für ihren Körper, ihre Mutter nannte sie „kleine Miss Piggy“ und seit der sportliche Leon bei ihr eingezogen ist, hat sie keine Jogginghose mehr getragen. Ein gemeinsamer Abend der beiden Frauen entwickelt sich zum harten Schlagabtausch in Sachen Selbsthass und Fremdbestimmung, der beide zum Nachdenken bringt. Später fliegt Sarahs narzisstischer Vorzeigemann mit Hilfe der starken Mädchen im wahrsten Sinn des Wortes aus ihrem Haus und Johannes muss seinen Witwerhaushalt endlich selbst in die Hand nehmen. Auch Sarahs Schreiben wird einem feministischen Relaunch unterzogen: Schluss mit misogynen Krimis, in denen Frauen von Männern geschlagen, gefoltert, entführt und ermordet werden. Sarah kündigt ihrer Agentin ein ganz anderes Buch an, und hier darf man als Leser*in durchaus einen gedanklichen Bogen zum vorliegenden Text schlagen.

Die Wut, die bleibt ist bei aller Wucht, mit der die Geschichte einsetzt, auch ein Roman der Zwischentöne und der Neuanfänge. Fallwickls Frauenfiguren haben Lebensmut und viel zu viel Energie, um im persönlichen und/oder patriarchatskritischen Lamento steckenzubleiben. Das ist mitreißend und macht, um nocheinmal die taz zu zitieren, „beim Lesen fast schon unanständig gute Laune“.

Mareike Fallwickl ist 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land. 2018 war ihr literarisches Debüt Dunkelgrün fast schwarz für den österreichischen Buchpreis nominiert, 2019 folgte der Roman Das Licht ist hier viel heller. Sie setzt sich auf diversen Bühnen sowie Social-Media-Kanälen für Literaturvermittlung ein, stets mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen.
Wer sich fragt, wie die Autorin in ihrem eigenen Leben Schreiben und Familie unter einen Hut bringt, sollte unbedingt in die Danksagung am Ende des Buches hineinlesen.

 

Sabine Schuster, Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien (Abschluss 1992), Tätigkeit für die schule für dichtung in Wien, die IG Autorinnen Autoren und den Folio Verlag, ab 1993 im Team des Literaturhaus Wien, von 2001 bis 2023 Redakteurin des Online-Buchmagazins.

Mareike Fallwickl Die Wut, die bleibt
Roman.
Hamburg: Rowohlt Verlag, 2022.
372 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-498-00296-1.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Rezension vom 07.06.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.