#Lyrik

Die virtuelle Forelle

Erwin Einzinger

// Rezension von Marcus Neuert

Wie kann man dem neuen Lyrikband Erwin Einzingers gerecht werden? Kann man es vielleicht gar nicht wirklich? Sind das überhaupt Gedichte? Was für eine erstaunliche Opulenz im Textumfang wie auch in der persönlichen Diktion. Es ist, als habe der Dichter zweieinhalbtausend Romananfänge geschreddert und anschließend wieder in Versform zusammengefügt.

Solcherlei unmittelbare Eindrücke und Fragestellungen drängen sich schon gleich nach den ersten Bissen von Einzingers virtueller Forelle auf, noch bevor eine differenzierte Einlassung auf das Gelesene überhaupt einsetzen kann. Ist das wirklich nur Provokation, ein lyrisches Auf-den-Arm-nehmen? Ist das nicht doch sehr viel mehr als abstruser Humor? Mitunter beginnen Einzingers Texte sogar formal wie in lockerer Runde vorgetragene Witze: „Unterhalten sich jugendliche Fahr- / Schülerinnen darüber, ob es / etwa erstrebenswert sei, beispielsweise / Dafür bezahlt zu werden, kaum be- / Kleidet auf einem Eisbärfell / Herumzuknotzen…“ (S. 44). Die Pointen freilich hält der Autor nicht am Ende, sondern in jedem einzelnen Satz versteckt.

Einige dieser Texte sind gestaltet wie Ausschnitte aus einem längeren Prosawerk, die Mehrzahl jedoch wie eine patchworkartige Fügung von in sich geschlossenen Sätzen, die zunächst nicht wirklich zusammenzugehören scheinen („Birnen lagen am Weg. Das geht nicht zuletzt aus einer harmlosen / Schreibübung hervor…“, S. 125), im weiteren Verlauf dann aber doch immer wieder Sinnverschränkungen ahnen lassen, die freilich der persönlichen Wahrnehmung jede Menge Raum geben.

Der Autor spielt mit der Langsamkeit des Auges, mit der Erwartungshaltung des Lesers, wenn er etwa ein Gedicht mit dem Titel Jenseits der Anmutsgrenze (S. 36) überschreibt. Die implizierte „Armutsgrenze“ stellt die ansonsten zumindest aufs erste Anlesen vollkommen unpolitischen Zeilen in einen sozialkritischen Zusammenhang, dem man sich nicht mehr ganz entziehen kann und – natürlich – findet man dann auch plausible Stellen für eine entsprechende Gesamtinterpretation.

Die Länge der meisten Texte Einzingers erscheint in der Rezeption nicht unproblematisch, da die zahlreichen Verschlingungen des scheinbar ungeordneten Materials den Leser stets irgendwann über die eigenen Wahrnehmungsgrenzen stolpern lassen. Man staunt gar sehr ob der Fülle der dargebrachten Beobachtungen und bleibt gleichwohl belustigt und ein wenig ratlos zurück.
Noch wirkungsvoller sind die auf wenige Zeilen eingedampften Gedichte, die im Prinzip aber gar nicht wirklich anders aufgebaut sind als die längeren – nur geraten die einzelnen Textelemente exemplarischer und aufgeladener, was ihnen letztendlich die größere literarische Wucht verleiht (vgl. beispielshalber die Gedichte Vor einem der Häuser hinter der alten Artilleriekaserne, S. 24 oder Es bläst der Märzwind aus allen Rohren, S. 35 bzw. In der Nähe einer Dämmstoffgroßhandlung, S. 44 und Ewig blaut das Firmament, S. 71).

Man kann sich fragen, ob die formalen Manierismen, die Einzinger so auffallend sorgsam pflegt (jeder Zeilenanfang beginnt nach alter Lyriktradition mit einem Großbuchstaben, jedes „und“ wird durch ein „&“ gekennzeichnet, die Versenden sind selbst bei wohlwollendster Betrachtung schlichtweg willkürlich gesetzt, manchmal sogar mit Silbentrennung über den Zeilenschluss hinweg), ob diese Manierismen nun die Texte besser oder schlechter machen. Sie kontrastieren jedenfalls zur Absurdität des Ausgesagten auf erfrischend anarchische Art und Weise, fügen den Versen, wenn man sie denn so nennen will, eine ironisierende Brechung zu. Auch in den Gedichten selbst finden wir ja immer wieder diesen Absturz ins Bodenlose, das ständige Fallen vom Hundertsten ins Tausendste, diese aberwitzige Abfolge von Bildern, Handlungen und Dialogfetzen, die scheinbar nicht miteinander in Beziehung stehen und den Leser auf eine Art lyrisches Kettenkarussell mitnehmen.

Einzingers Arbeit erscheint als subtile Abrechnung mit dem alltäglichen Irrsinn, als das von verzweifelter Komik geprägte Anschreiben gegen die Orientierungslosigkeit in der Welt wie im eigenen Kopf. Das geht nicht ohne die sinnliche Lust am Surrealen, nicht ohne Dada im Blut, und so verwundert es kaum, dass ihm 2010 folgerichtig der H. C. Artmann-Preis für sein lyrisches Schaffen verliehen wurde.

Eine weitere Wurzel des Einzingerschen Schaffens liegt aber wohl auch in der vielzitierten „Neuen Subjektivität“ der siebziger Jahre des vergangen Jahrhunderts. Die gestochen scharfe Beobachtung, die wie auch immer geartete Rückschlüsse ganz ins Ermessen des Lesers stellt, ist in einigen Gedichten Dreh- und Angelpunkt („…eine Dame aus Jamaika in schwarzem / Ledertop… // …mit ge- / Bleckten Zähnen & diesem Lächeln, über das es / Eigentlich nicht viel zu sagen gibt“, S. 38). Hier „brinkmannt“ es auffällig, und doch sind solche Zeilen natürlich viel mehr als eine lauwarme Reminiszenz an verblichene Lyrikkonzepte.

Einzingers Ausarbeitungen sind kraft- und saftvoll – das macht sie letztendlich so sympathisch und überaus geeignet als Vademecum zur Bewältigung der Masse an Reizüberflutungen aller Art. Unseren täglichen Einzinger gib uns heute – so werden wir dem Dichter dann doch noch gerecht, Häppchen für Häppchen.

Erwin Einzinger Die virtuelle Forelle
Gedichte.
Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2011.
144 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-902497-90-1.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor

Rezension vom 01.09.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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