Das alles vor der Kulisse gesellschaftlichen Umbruchs: Frauen sind dabei, an die Universität zu drängen und für das Wahlrecht zu kämpfen, daneben und werden sozialistische Ideen diskutiert, und (homo-)sexuelle Freiheit ist zwar noch mehr oder weniger Tabu, eine entsprechende Szene blüht aber bereits im Verborgenen. Burschenschafter machen Radau an der Rampe des Universitätsgebäudes, und der eine oder andere stramme Offizier steht kompromisslos ein für Sitte, Anstand und Vaterlandsliebe. Die Stadt scheint wie aus Parallelwelten geschichtet, in einer davon gefangen zu sein, ist übliches Schicksal, aber manche sind in der Lage, in mehr als einer zu leben. Dazu gehören Klara und Adam, denen Hans vor einer psychoanalytischen Praxis begegnet. Die Psychoanalyse ist es auch, die Hans überhaupt nach Wien gezogen hat. Er will Erscheinungen auf den Grund gehen, die er an sich beobachtet hat, will verstehen, warum er zuweilen das denkt, was andere dann auf einmal sagen. Will der Frage auf den Grund gehen, wie sein Bewusstsein mit dem von anderen verbunden ist. Wie das Individuelle mit dem Kollektiven zusammenhängt.
Raphaela Edelbauers dritter Roman Die Inkommensurablen ist auf den Tag genau historisch situiert und doch ein Spiegel des Heute. Es geht um Rastlosigkeit und Reizüberflutung, um Suggestion und Manipulation, um Marginalisierung Unterdrückter, Bildungszugang, soziale Ungerechtigkeit und Krieg – und um die Suche nach der Wahrheit in einer verwirrenden Welt. Betrachtet aus der Perspektive von Hans, dem Pferdeknecht, der Bücher liebt und hungrig ist nach neuem Wissen. Mit Klara und Adam begegnet er einer Mathematikerin aus der Arbeiterschicht, die kurz vor ihrem Rigorosum steht und einem adeligen Musikliebhaber, der, streng militärisch erzogen, dabei ist, unfreiwillig freiwillig an die Front zu gehen.
Inkommensurabel sind die irrealen Zahlen, mit denen Klara sich beschäftigt. Inkommensurabel sind die Kinder mit ihren Eltern, es gibt „kein gemeinsames Maß“ (S. 154) mehr zwischen ihnen. Inkommensurabel ist Schönbergs Zwölftonmusik mit dem Zeitgeschmack. Und inkommensurabel ist, was die Welt bewegt – oder eben die, die sich in ihr bewegen. Etwas inkommensurabel ist vielleicht auch das eine oder andere sprachliche Bild, das wirkt, als wäre es verschoben, als würden die einzelnen Teile nicht ganz zusammenpassen, und man fragt sich, ob das vielleicht sogar Absicht sein könnte, denn schließlich ist der ganze Roman (und das sehr offensichtlich) durchzogen von Gegensätzen, mit denen ebenso gespielt wird wie mit sprachlicher Opulenz. Aufgetischt werden Metaphern mit dickem Schlagobersklacks, doch in der Kanalisation statt im Kaffeehaus. Mut zur Manieriertheit kann man es vielleicht nennen. Zur Umständlichkeit. Gleichzeitig altmodisch und modern wirkt der Roman jedenfalls. Fulminant dekadent, wenn man so will. Und als würde er das alles nur vorführen (wollen).
Leser:innen versinken in der Üppigkeit des Texts wie Hans im Trubel der Großstadt. Mit Klara und Adam lässt er sich durch die Hauptstadt der Psychoanalyse treiben, Brüche gehen durch seine Wahrnehmung, durch die Gesellschaft, durch die Vorstellungen von Dingen. Ernüchternde Brüche, die es unmöglich machen, zu erkennen, was die Welt zusammenhält. Hans hat sich aufgemacht, diese Brüche zu erkunden, sucht das Ungewöhnliche daran und findet das Gewöhnliche. Alles liegt ganz knapp nebeneinander: Vertrauen und Aggression, Rationalität und Wahnvorstellungen. Kollektive Wünsche, Träume und Ängste, Armut und Verschwendung sind ein simultanistisches, vieldimensionales, irrationales Mosaik, alles ist mit allem inkommensurabel und trotzdem einfach da. Und es ist da, um kommentiert zu werden. Scheinbar unaufhörlich. Es wird viel geredet in diesem Roman. Es ist ein Aufeinander-Einreden und ein Einander-etwas-Einreden. Es gibt rationale Vorträge zu irrationalen Zahlen und irrationale Erklärungen für reale Phänomene. Es gibt inszenierte Sinnestäuschung und Manipulation auf allen Ebenen: im wissenschaftlichen Experiment, der drogengeschwängerten Seance oder am Mittagstisch.
Als Hans in den ersten Szenen des Romans aus dem Bahnhof in das Gewühl der Großstadt tritt, umfängt ihn die Mehrsprachigkeit der untergehenden Doppelmonarchie. Wortfetzen aus Sprachen, die er nicht versteht. Später dringt das Nicht-Verstehen in tiefere Schichten. Und es wandelt sich in die Frage, wie es denn nun um das Verstehen-Wollen steht. Wann sind wir offen, eine Einsicht anzunehmen, die wir nicht schon vorher hatten? Und wann ist eine Einsicht „echt“? Wann suggeriert? Welche Voraussetzungen stecken dahinter? Wie kommt es zu einer Haltung und wodurch ändert sie sich? Und wie und wodurch sind wir mit anderen verbunden? Erkenntnistheoretische Fragen, die die feministische Philosophie ebenso geprägt haben, wie die postkoloniale Theorie, sind in den Roman verwoben, durchziehen diese schlaf- und atemlose Julinacht des Jahres 1914, explizit und implizit. Und stehen nach der Lektüre noch lange im Raum. Ohne dass dadurch die erzählte Geschichte – bei aller Konstruiertheit – weniger lebendig würde. Aber vielleicht ist auch das schon wieder so ein Gegensatz.