Die Erzählsituation für diesen Physik-Thriller ist genial. Ein Arzt rät 1996 dem greisen Physiker Dr. Krüger, sein Leben zu durchforsten und möglichst viele Lebensdateien zu rekonstruieren, ehe ein Schlaganfall die ganze Erinnerung auslöschen könnte. Von diesem physikalischen Verfall des eigenen Gehirnes angespornt, pflügt Dr. Krüger sein Leben durch und gerät bald einmal an jene Stelle, wo deutsche Physiker auf dem englischen Landsitz „Farm Hall“ interniert sind.
Zehn deutsche Forscher, die an der Erfindung einer „Uranmaschine“ beteiligt waren, sind 1945 einige Monate bei gutem Lebenskomfort eingesperrt und können sich nicht erklären, warum. Mittendrin erreicht sie die Nachricht, daß auf Hiroshima die erste Atombombe abgeworfen worden ist.
Selbstverständlich diskutieren die deutschen Atom-Spezialisten wie wild, was sie falsch gemacht haben und was offensichtlich die Amerikaner richtig gemacht haben, um eine funktionstüchtige Bombe zu konstruieren.
Langsam stellt sich der eigentliche Zweck dieser Internierung heraus. Die Alliierten wollen durch die abgehörten Gespräche erfahren, was sich eigentlich so ein Physiker denkt, wenn er gerade den Weltuntergang erfunden hat. Wenn die Forscher instinktiv die Atombombe bewältigen, müßte man deren Argumente für die Aufarbeitung in der ganzen Weltgeschichte nützen können.
Der Roman erzählt von den verschiedenen Standpunkten der Internierten, die zum Teil nach dem Muster einer atomaren Kettenreaktion aufeinander prallen und sich in diverse Elemente zerspalten. In die Kapitelüberschriften ist in kursiver Schrift jeweils der nackte Tatbestand in einer kurzen Sequenz eingeblendet, etwa wie der Pilot des Bombers Hiroshima anfliegt, wie sich die Vernichtung auf der Haut der Opfer zeigt oder wie der amerikanische Präsident proklamiert, daß er den Krieg verkürzt habe.
In der Erinnerungsarbeit des alten Dr. Krüger sind auch Milieuschilderungen aus dem Hinterland von Nazi-Deutschland eingebettet, die Sichtweise des jungen Forschers ist genau jenes Segment von der Wirklichkeit, das für eine Forscherkarriere ausschlaggebend ist. Unnützes wird ausgeblendet, der Blick wird einer einzigen Pragmatik untergeordnet, stets die Richtung auf das Ziel im Auge zu behalten!
Im berührenden Abschlußkapitel werden die Erinnerungen eines deutschen Kellners aufgeschlagen, der die Gruppe in Farm Hall bekocht und bedient hat. Seine intime Darstellung der Vorgänge auf Farm Hall läßt die Internierung wie ein absurdes Theaterstück mit realistischen Vorgaben erscheinen.
Sven Daubenmerkl, selbst mehrfach ausgezeichneter Physik-Didaktiker, hat die physikalischen Vorgänge um die Atomspaltung dermaßen selbstverständlich dargestellt, daß man glaubt, beim Anrichten von Obstsalat teilgenommen zu haben. Die Figuren sind so austariert, daß sich der Leser mit dem Feld der Beziehungen und Meinungen beschäftigt und nicht in Versuchung kommt, in Schwarz- Weiß-Manier über die Helden einseitig herzufallen.
Die teuflische Frage, wer es sich erlauben darf, an der Vernichtung der Menschheit zu arbeiten, beantwortet der Roman klugerweise nicht mit einem absurden Ja oder Amen. Die Botschaft des Romans lautet am ehesten, daß der Mensch forschen wird, so lange er eine Pipette halten kann.
Forscher Geist ist ein Bildungs-Thriller, von dem Didaktiker aller Art nur schwärmen können.