#Lyrik

Im siebenten Jahrzehnt

Gerald Bisinger

// Rezension von Peter Stuiber

„Let us suddenly proclaim spring“ lautet eine Textzeile aus dem Gedicht „The Conspiracy“ von Robert Creeley, das als Motto dem vorliegendem Band mit „letzten Gedichten“ Gerald Bisingers voransteht. So düster der Untertitel von „Im siebenten Jahrzehnt“ auch sein mag, so optimistisch beginnt also der Band des im Februar 1999 verstorbenen Literaten.

In „Frei von jeder Depression“, dem ersten jener letzten Gedichte, nützt der „Erzähler“ die Gelegenheit des anbrechenden Frühlings zu einer geistigen wie körperlichen Mobilmachung. Der Ausbruch aus dem Wiener Alltag ins nahe Bratislava wird nicht nur mit einer köstlichen Fischsuppe und gebackenen Leber, sondern auch mit Sorglosigkeit „belohnt“: „Rotwein trink ich und schreib dabei wie so / oft schon denk nicht an Zukunft bin zufrie- / den an einem hölzernen Tisch“ (S.7). Doch schon im ersten und in den beiden nächsten Gedichten „Zur Erinnerung“ und „Lebendig“ stört ein dunkler Schatten die frühsommerliche Szenerie: Erinnerungen an einen todkranken Dichterkollegen und eine Friedhofsglocke kündigen die eigene Vergänglichkeit an.

Die im Juli des Jahres 1996 entstandenen Gedichte sind dann in Berlin angesiedelt, jener Stadt, in der Bisinger lange Jahre als Mitarbeiter des Literarischen Colloquiums lebte. „Was tu ich hier“ fragt sich der Schriftsteller während seines Spaziergangs durch die „Stadtlandschaft von Berlin“ (S.14), in der „Gebäude Straßen und Plätze“ die Erinnerungen an Freunde von einst wecken. Doch „nicht hoffnungslos“ endet diese Reise in die Vergangenheit. Wie um dem Tod zu trotzen, kauft sich der Dichter in „seiner“ Stadt einen Taschenkalender für 1997 (und das Anfang Juli).

Zurück in Wien melden sich sofort die Beschwerden zurück, abgesehen davon, dass Herbst und Winter langsam Einzug halten. Die Gedichte entstehen in den Gasthäusern, die uns schon von früheren Gedichtbänden ein Begriff sind. Und in „Sittls Weinhaus Zum Goldenen Pelikan“ kann es sogar vorkommen, dass über die Zeit nach dem Tod durchaus prosaisch nachgedacht wird: „[…] Beuschel Rahmherz oder ge-/backenes Hirn mit Kartoffelsalat die- / se Genüsse werde zweifellos nach meinem Tode ich nicht mehr verspüren“ (S.28).

Im folgenden Frühjahr wird dann eine Zufriedenheit, die wir schon aus dem ersten Gedicht kennen, wieder im wahrsten Sinne des Wortes „erfahren“: Der Schriftsteller reist per Zug ins nahe Bratislava und genießt bei einer Kuttelsuppe den kleinen Ausbruch aus der Wiener „Alltäglichkeit“. Der Sommer in Berlin wiederholt sich ebenso wie der Herbst, der Winter und die regelmäßigen Gasthausbesuche. Im letzten Jahr 1998 wird die Atmosphäre jedoch immer düsterer, immer häufiger beeinträchtigt die Krankheit den Tagesablauf und dessen Bequemlichkeit: „[…] essen nicht kann ich mehr das / was mir schmeckt“ (S.64); „[…] ich hasse meine Bresthaftig- / keit muß dennoch fortwährend dran denken“ (S.58) Abgeschlossen werden die drei Jahresabläufe mit resignierenden Worten. „[…] ernsthaft frage ich mich / ob ich Allerheiligen noch erlebe oder selber bestattet / schon bin auf dem Friedhof von Otta- / kring noch trink ich Rotwein esse was / mir bekommt schreibe noch leb ich“ (S.75).

Der letzte Gedichtband Gerald Bisingers ist vieles zugleich: Die poetische Chronik eines körperlichen Verfalls, ein ironisch-kulinarischer Führer durch die Wiener und Berliner Gastronomie, ein bitterer Abgesang auf eine untergehende Generation von Literaten und ein Lobgesang auf die Meditation bei Alkohol- und Tabakgenuß.

Gerald Bisinger Im siebenten Jahrzent
Letzte Gedichte.
Graz, Wien: Droschl, 2000.
78 S.; geb.
ISBN 3-85420-539-2.

Rezension vom 31.07.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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