Wie zu erwarten ist Balthasar Beck durch seinen Kriegseinsatz in Russland und die sibirische Gefangenschaft körperlich und psychisch destabilisiert. Sieben Jahre lang gab es keinen Kontakt zwischen seiner Frau und ihm, sein Kind hat er nie gesehen. Noch bevor Odysseus seiner Penelope gegenübertritt, fordert er von seinem Chef den früheren Posten als Polizist im Kriminaldienst zurück. Skepsis und Missgunst schlagen dem Heimkehrer entgegen, man gewährt ihm zunächst eine Art Probezeit. Zufällig geschieht gerade eine rätselhafte Mordserie, an deren Aufklärung er nun mitwirkt, mit der ihn aber auch seine Kriegsvergangenheit einholt. Es gibt Verstrickungen in den Fall, die ihn für so manchen Kollegen verdächtig machen, bis er das Rätsel schließlich löst. Sowohl Beck als Person als auch die aufzuklärenden Morde stellen einen Einbruch der anderen Welt „Krieg“ in eine neu geordnete zivile Gesellschaft dar. Dementsprechend kompliziert gestaltet sich auch Becks Wiedereintritt in die Familie: Frau und Tochter hatten ein Leben ohne ihn. Die Freude über das Wiedersehen hilft nur im ersten Augenblick über die Entfremdung hinweg. Wie im Mainstreamfilm nach amerikanischem Modell bleibt die Spannung dieser Geschichte durch die Gewissheit begrenzt, dass der Held die Bewährungsprobe, die ihm den Übergang in ein neues Leben ebnen soll, bestehen wird. Insofern folgt der Roman einem trivialem Muster.
Dieser Hinweis auf die normierte Grundstruktur soll den Roman keineswegs generell abqualifizieren. Erzählerische Dichte entsteht auch durch ein hohes Maß an Information, die hier wiederum durch ausführliche Rückblenden vermittelt wird. Die Erinnerungen führen bis in die ungemütliche Kindheit des Richtersohns Balthasar und geben eine fragmentarische Skizze seiner Russland-Jahre. Sehr plastisch und lebendig hat Balàka ihre Figuren geschrieben, ihnen ausgeprägte Profile mit Widersprüchen und Schwächen gestattet. So ist Beck ein sympathischer Antiheld, der seine eigentliche Aufgabe als Soldat nur kurz erfüllt (was ihm sein unnachsichtiger Vater auch übel nimmt): bereits 1915 gerät er in Gefangenschaft, 1919 gelingt ihm die Flucht und er schließt sich, um zu überleben, der Roten Armee an. Zwar muss er seine moralischen Ansprüche im Ausnahmezustand herunter schrauben, er verfällt jedoch niemals dem „Blutrausch“ und überschreitet nicht die Grenze, jenseits derer er für sich selbst unerträglich würde. Aus Bruchstücken fügt sich auch die Vorstellung, die man von Becks Frau Marianne bekommt. Affären hat es gegeben, eine Neigung zur Sozialdemokratie wird angedeutet, für die ihr Mann nach seinen Erfahrungen mit der Roten Armee wenig Verständnis aufbringen kann – auch hier manifestiert sich der unterschiedliche Erfahrungshorizont zwischen Hinterland und Front. Letztendlich gelingt es den Ehepartnern, ihre Wertschätzung füreinander zu bewahren, indem sie sich nicht gegenseitig lückenlose Beichten abverlangen.
Man merkt dem Roman die genaue Recherche und den sorgfältigen Umgang mit dem Material an. Balàka ist bemüht, ein facettenreiches Bild der Zwischenkriegszeit zu geben: die unvorstellbare Traumatisierung der Männer, die im Krieg waren und sich in eine Gesellschaft mit „normalen“ Regeln eingliedern müssen; materielle Not und Lebensgier; politischer Umbruch, ideologische Polarisierung, Aufkeimen des Nationalsozialismus … Von einer Autorin geschrieben, die 1966 geboren wurde, kann dieses Bild aber eben nur eine aus der Distanz gebildete Vorstellung davon sein, wie es gewesen sein könnte. Indem die Autorin eine geschlossene Zeitstruktur (1922) wählt und keine Gegenwartsperspektive aufmacht, hat der Roman in seiner Gesamtheit etwas zutiefst Synthetisches. Das zeigt sich besonders dort, wo Authentizität hergestellt werden soll: in Szenen des Alltags, die in ihrer Funktion als wirklichkeitsgetreue Unterfütterung so deutlich hervorstechen, dass sie diese Funktion eigentlich nur verfehlen können. An manchen Stellen drängt sich auch das Material der Recherche zu stark in den Vordergrund und lässt die Handlung unrealistisch originell erscheinen (z. B. die Drapierung eines Mordopfers auf einer Schiffsmühle auf der Donau).
Der Roman Eisflüstern zeugt von einer leisen Umorientierung der Schriftstellerin Bettina Balàka. Die selbstreferentiellen Aspekte ihres Schreibens treten im Vergleich zu früheren Werken in den Hintergrund, der Umgang mit der Gattung Roman wirkt insgesamt gelassener und mehr auf den Stoff konzentriert. Im Hinblick auf ein hohes Bewusstsein für die Gender-Problematik bleibt sich die Autorin durchaus treu; ebenso begegnet man jenem sarkastischen Erzählton wieder, bei dem nicht immer klar wird, worauf er sich gründet und was er bezweckt, der dem Roman jedoch eine kompakte Strenge verleiht und für Witz sorgt. Fest steht, dass es für diese Art des scheinbar analytischen und doch auf Pointierung ausgerichteten Erzählens eine starke Tradition in der österreichischen Literatur gibt.