#Prosa

nachschrift 2

Heimrad Bäcker

// Rezension von Richard Reichensperger

„Es gilt, bis an die Zähne bewaffnet in sich selbst einzudringen“, notierte Paul Valéry in seinen „Cahiers“. Also: Zertrümmern eigener Vorurteile, Verblendungen, Überzeugungen – etwa durch die Wühltätigkeit dauernder Lektüre. Bei Heimrad Bäcker wird diese Selbst-Subversion zur literarischen Methode. Hereingefallen auf eine Ideologie – der 1925 in Wien Geborene war Mitarbeiter der HJ-Gebietsführung Oberdonau – hat Bäcker Jahrzehnte seines Lebens mit dem Studium von Nazi-Akten, von Gerichtsverhandlungen, von Zeitgeschichte, von Täter- wie Opfertexten verbracht. Ziel: Die Ideologie von innen her, von Sprache und Fakten her, aufbrechen und als literarisches Erkenntnis-Material präsentieren.

Das Ergebnis: Ein Meisterwerk. Bestehend aus zwei Flügeln im Triptychon österreichischer Trauerarbeit, in dessen Mitte Ilse Aichingers „Die größere Hoffnung“ (1948) und Ruth Klügers „weiter leben“ (1992) stehen. Der linke Flügel: Bäckers „nachschrift“, entstanden 1968-1985: 129 Textseiten. Der rechte Flügel: nachschrift 2, entstanden 1986-1996: 236 Textseiten.

Das Textmaterial: Das sind die 42.000 Seiten der Nürnberger Prozeß-Akten; das „Kursbuch der Deutschen Reichsbahn für die Gefangenenwagen“; die Bücher Raul Hilbergs, Ernst Klees und Simon Wiesenthals; „Das Judenbild in deutschen Soldatenbriefen“ einerseits, Briefe aus dem Widerstand und Augenzeugenberichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz anderseits: Im Anhang der beiden Bände ist diese und weitere Literatur angeführt. Jeder einzelne Satz in Bäckers Erkundungs-Werk ist ein Zitat aus dieser Forschungsliteratur, sodaß man den literarischen Text und den Anhang parallel lesen sollte.

Faszinierend, wie Bäcker dieses Material präsentiert: Auf mancher Seite steht nur ein Satz (oder ein Bruchstück davon, denn die Fortsetzung ergibt sich aus dem starren Gerüst und der Tötungslogik der Verwaltungssprache), etwa dieses Fragment aus einem Brief Himmlers: „von den juden und jüdinnen, die aus deutschland ausgewandert werden,“ – so 1986 in „nachschrift“. In nachschrift 2 nun der Satz eines SS-Brigadeführers 1943: „es müssen tote vorhanden sein, sie mögen herkommen, woher sie wollen, sonst ist der betreffende mann kein führer und kein soldat“: Was die Tätersprache im ersten Band vorbereitet, vollziehen die Täter in nachschrift 2.

Bäcker ordnet diesmal noch deutlicher sein Material in Abteilungen ein. Überdies reduziert er – verdeutlichend – viele Sachtexte auf ihr Gerüst: Wenn etwa auf einer Seite einmal nur dreizehn Zugnummern untereinander stehen, bei einer in Klammer hinzugefügt: (kindertransport) – ein schmerzhaftes, politisches, konkretes Poem.

Bäcker hat in nachschrift demonstriert, wie man mit experimentell geschulter Methodik, mit dem Abklopfen der Sprache, mit äußerster und sofort einleuchtender Reduktion immensen Materials politisch schreiben kann: Eine unerreichbar klare, spannende, moderne, eine entsetzend traurige und freisetzend analytische Prosa.

Heimrad Bäcker nachschrift 2
Prosa.
Graz, Wien: Droschl, 1997.
263 S.; brosch.
ISBN 3-85420-472-8.

Rezension vom 04.12.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.