Der vorliegende Band enthält fünf Gedichte aus dem Nachlaß der Autorin, der in der Österreichischen Nationalbibliothek aufliegt: „Schallmauer“, „In Feindeshand“, „Wenzelsplatz“, „Jüdischer Friedhof“ und „Poliklinik Prag“. Es folgt ein 16seitiger Kommentar des Herausgebers. Die Entwürfe, Fassungen und Kommentare der späten Gedichte „Delikatessen“, „Böhmen liegt am Meer“ sowie „Enigma“ bilden den größten Teil der Publikation. Die Texte werden in fotomechanischer Reproduktion wiedergegeben, so daß größtmögliche Authentizität entsteht. „In Feindeshand“ ist nur in handschriftlicher Fassung erhalten, und so kann sich der Leser am Transkriptionsprozeß beteiligen.
„Schallmauer“ thematisiert auf 28 Zeilen den (Verkehrs-)Lärm und die Geschwindigkeit des modernen Lebens; diese werden nicht in euphorischem Fortschrittsglauben bejaht, sondern in der Mitte des Gedichts als „Wahn“ bezeichnet. Hier wird nicht nur der Begriff „Wahn“ ins Gedicht eingeführt, hier kippt die Beschreibung des „Lärmteppichs“ in die Folgen desselben: Das lyrische Subjekt befindet sich in einer Aufwärtsbewegung, angetrieben durch „Wahnkraft“, um mittels einem „großen Knall“ die „Schallmauer“ zu durchschlagen. Zeile 14 und 15 sind nicht nur der Kippunkt des Gedichtes, sie bilden auch das Schanier: „es ist nicht mehr / nichts ist mehr“ steht deutlich abgehoben vom restlichen Text: wessen Nicht-Existenz wird hier ins Zentrum gerückt, eingekeilt zwischen Lärm und dem Durchschlag der Schallmauer mittels Wahnkraft? Mitten in der gigantischen Betriebsamkeit sitzt gespenstisch die Grabesruhe der Absenz.
Höller assoziiert „Schallmauer“ mit dem Prosatext „Ein Ort für Zufälle“, den Ingeborg Bachmann im Herbst 1964 zur Verleihung des Büchner-Preises vorgetragen hat: „Den Lärmwahnsinn, Geschwindigkeitsrausch und Konsum-Wahn in Berlin versteht sie an diesem geschichtlichen Ort als zwanghafte Ausflucht vor der jüngsten Vergangenheit: ‚es wird getrunken (…) muß getrunken werden, damit etwas vergessen wird‘.“ (S. 30)
„In Feindeshand“ thematisiert Kriegsgreuel: Die Knochen „gemahlen“, der Blick zertreten, die Ohren mit Alarmtrillern malträtiert; das einzige Wort – „Alarm“ – der letzten Zeile kann als Aufforderung gelesen werden: (Alarm kommt aus dem Französischen „all‘ arme!“, was „zu den Waffen!“ bedeutet; übrigens auch die historische Wurzel zu „Lärm“). Die Titelzeile läßt an Kriegsgefangene denken, aber das Schlußwort „Alarm“ läßt vermuten, daß die Feinde im eigenen Land sitzen. Die Geschlagenen sollen durch mürbe Knochen gefügig werden, ihr Urteilsvermögen (Blick) wird zerstört, gefragt ist nur der Hörsinn, denn den braucht’s zum Gehorchen.
Im Winter 1964 unternahm Bachmann von Berlin aus zwei Prag-Reisen. „Wenzelsplatz“ ist ein literarischer Niederschlag dieser Reisen, genauso das berühmte Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ und „Jüdischer Friedhof“. Allesamt Gedichte, die positive Utopien formulieren, indem sie Orte darstellen, die Heimat sind, Zuflucht und Ruhe. Die Brüchigkeit dieser Zufluchtsorte findet sich in jedem der genannten Texte, besonders deutlich vielleicht in „Poliklinik Prag“: „Da ist alles umsonst“ bedeutet nicht nur die kostenlose Behandlung aller Kranken, sondern auch die Vergeblichkeit aller Heilungsversuche. Diese Lesart wird am Ende des Gedichtes erhärtet; die Patienten taumeln „wie vorm Paradies und atmen kaum“. Höller erinnert an Erich Frieds Erklärung zu „Böhmen liegt am Meer“: „Die Gegenwelt, in der sie Zuflucht vor der Verzweiflung findet oder doch sucht, wird der Verzweiflung zum Verwechseln ähnlich.“ (S. 42)
Die Entwürfe und Fassungen der bereits bekannten Gedichte „Keine Delikatessen“ (Bachmanns letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Gedicht), „Böhmen liegt am Meer“ und „Enigma“ passen von ihrer Entstehungszeit zu den Nachlaßgedichten. Sie geben Einblick in die Schaffensweise der Autorin, zeigen die vielen Metamorphosen von der ersten Niederschrift bis zum veröffentlichten Gedicht. Selbst von „Böhmen liegt am Meer“, das Bachmann selbst sehr wichtig war und von dem sie sagte, daß sie es eigentlich gar nicht selbst geschrieben habe, es sei ihr zugefallen und sie gebe es wie ein Geschenk weiter (vgl. Bachmann: Bilder aus ihrem Leben, Piper, S. 108), kennen wir nun sieben Vorstufen!
Die vorliegende Publikation ist solide aufbereitetes Textmaterial zu einer Autorin, die vielen als der Inbegriff der österreichischen Nachkriegsliteratur gilt.
Mittlerweile weiß man, daß es im Nachlaß der Autorin noch weitere bisher unpublizierte Texte zu entdecken gilt.