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Der Zwerg reinigt den Kittel

Anita Augustin

// Rezension von Benjamin Schweitzer

Die Inuits in Ostgrönland sollen sie versenkt und ertränkt haben. Die Polar-Inuits sollen sie eingemauert haben und die Chipewyan-Indianer als letzten Liebesbeweis gesehen haben, sie zu erwürgen. Die Rede ist von den alten Menschen in den Gemeinschaften dieser Kulturen. Wer nicht mehr arbeitsfähig war oder bereits pflegebedürftig, wurde ehestmöglich in die ewigen Jagdgründe geschickt. „Pflegestufe eins bis drei, Berge von Inkontinenzwindeln, ein Totenreich voller Greise – hat es alles nicht gegeben, bis dann die ersten weißen Humanisten gekommen sind und gesagt haben, dass sich das nicht gehört mit dem Erwürgen und Ertränken“ –  so fabuliert und hetzt Anita Augustins Erzählerin über „Gerontozid“, „Überalterung“ und Altern in der westlichen Gesellschaft.

Doch bei ihrer Almut Block gilt es gut zu überlegen, wie weit man ihren Ausführungen trauen soll. Die Kettenraucherin ist seit Jahren schwer depressiv, hat seit Jahrzehnten Schlafstörungen, einen Hang zu soliden Gewaltfantasien. Und wurde eben erst zur Rentnerin. Sie hat keine Familie oder Verwandte, keine Hobbys oder Haustiere. Was bleibt ihr also anderes übrig, als sich mit ihren wiedergefundenden Freundinnen Karlotta, Suzanna und Marlen, die ein ähnliches Schicksal teilen und die Almut vor dreißig Jahren das letzte Mal gesehen hatte, vormittags in der Kneipe um die Ecke zu betrinken?
Einen Renten-Alltag jenseits des „Happy Aging“ oder der „Golden Girls“ zeichnet die Autorin in ihrem Debütroman. Es muss ja nicht gleich Florida sein, denkt sich Augustins infernales Gespann, aber zumindest „Vollpension, Zimmerservice, Wäschedienst“ auf Staatskosten wäre eine anzustrebende Alternative. Und so arbeiten sie an einer „astreine(n) Performance als Menschenmüll“, um mit Pflegestufe zwei die Eintrittskarte ins Altersheim zu erhalten.

Doch was folgt ist jenseits jeglicher Vorstellung von „in Würde altern“. Die Floskeln der Wohlstandsgesellschaft, die den „Seniorenteller“ erfand, werden in ihrer Lächerlichkeit enttarnt und in einer brutalen Realität dargestellt. In Augustins wortgewaltigen Tiraden wird nichts schön geredet, sondern rotzig räsoniert: „Das Alter ist nicht unbedingt reich an neuen Erfahrungen, das Altenheim schon“, stellt Almut Block fest und landet wie geplant mit ihren Freundinnen in einem Wartezimmer zum Tod mit Namen „Residenz“, das sie gehörig aufmischen und von wo aus sie direkt ins Gefängnis wandern. Die vermeintlichen Opfer werden hier nämlich zu Tätern – die „Grauen Stars“ werden des Mordes an der deutschen Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verdächtigt, die für einen Pressetermin in der „Residenz“ zu Besuch war, ehe sie im dortigen Keller tödlich verunfallte.

Zwischen Sitzungen beim Gefängnispsychologen, Selbstgesprächen und Berichten ihrer Erzählerin aus dem Altenheim-Alltag gestaltet Anita Augustin in ihrem Roman ein schillerndes und irritierendes Bild einer unangenehmen Zukunftsvorstellung, die unausweichlich ist. Bitterböse und ohne Altersmilde drückt ihre Almut Block auf die brüchigen und wunden Stellen dieser Gesellschaft, bis es richtig weh tut, in einer Gesellschaft, in der Senioren und Hundebesitzer zwar als wichtige Wirtschaftsfaktoren erkannt wurden, Altern jedoch noch immer nicht in seiner mächtigen Realität anerkannt wird.

Anita Augustin Der Zwerg reinigt den Kittel
Roman.
Berlin: Ullstein, 2012.
336 S.; brosch.
ISBN 9783550080050.

Hörbuch.
Sprecherin: Mechthild Grossmann.
Hamburg: Hörbuch Hamburg, 2012.
ISBN 3-89903-378-7.

Rezension vom 01.06.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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