Erstens der Spannung wegen
Norbert ist Strichjunge geworden, weil ihn seine Mutter rausgeworfen hat. Die verbitterte, verfettete Tamara wartet beim Denkmal für Karl Lueger auf Herrn Ludwig, ihr erstes Rendevouz seit langem. Bilinski hat im riesigen Dachgeschoß seines Hauses ein Modell des architektonisch unversehrten Wien, mit dem er geheimnisvolle Pläne verfolgt. Der Einbeinige wiederum schreibt Kolumnen für die Obdachlosenzeitung ‚Augustin‘; er hat Nobert bei sich aufgenommen. Die Figuren streben aufeinander zu, und sie treiben auseinander. Wir haben begriffen, was sie zusammenhält. Gier, Geilheit, Leidenschaft, Schuldgefühle, Hass. Am Ende wird es Mord gewesen sein. Mehr sei nicht verraten.
Hommage an Wien
Zweitens ist der Roman auf seine Art eine Hommage an Wien, voller kulturhistorischer und alltagskultureller Details, fast schon wie bei Doderer in den Dämonen und bei Canetti in der Blendung. Die sozial- und tiefenpsychologischen Abgründe sind mit Lokalkolorit aufgefüllt. Die hehre Utopie von einem architektonisch unversehrten Wien ist von kindischen und perversen Wunschfantasien durchkreuzt. Die Stationen der Odyssee Norbert Bauers durch die Straßen und Plätze der kloakenhaften, versehrten Stadt werden bei wienkundigen Lesern zum Wiedererkennen führen. Aber Sie werden die öffentliche Toilette am Fuß der Rolltreppe von der Kärntnerring-Passage zur Staatsoper, wo beim Eintritt Johann-Strauß-Melodien intoniert werden, nie wieder betreten können, ohne an das denken zu müssen, was sich in diesem Roman in der dritten Zelle der Toilette abspielt, geschweige denn, dass Sie der Klofrau noch in die Augen sehen können, ohne ihr Grinsen als Mitwisserlächeln zu missdeuten. So zieht uns dieser Roman hinein in seine raffiniert erzählten Abscheulichkeiten, für die es an psychoanalytischen und soziologischen Motivierungen nicht fehlt. Gewagt, aber gelungen ist die Engführung zwischen Sex und Politik in der Doppel-Erzählung der beiden Protagonisten, deren Begegnungen der besonderen Art am Abort Kärntner Ecke Ring stattfinden: der muttergeschädigte, vatersuchende Strichjunge aus dem Plattenbau mit seiner auf den Bauch tätowierten Doppel-Acht und der großbürgerliche Bonvivant in seiner Doppelrolle als kunstsinniger Bourgeois Ludwig Bilinski einerseits und als hetzerische Krone-Leserbriefe schreibender Franz Bierheber andererseits.
Drittens die Sprache
Es ist Paul Auer in seinem Romanerstling auch geglückt, die Sprache des Begehrens seiner Figuren zu finden. Das nuancierte Spektrum reicht von der verlogenen Wortwahl des veröffentlichten Diskurses bis zum subkulturellen Fixer- und Neonazi-Jargon. Der Roman lebt von und atmet mit seinen authentischen Dialogen, wenn der Autor die unterschiedlichen Wiener Sprachmilieus aufeinander prallen lässt. Aber mehr noch von der Joyce-schen Bewusstseinsstromtechnik, vom Gedankenjargon, der Sprachmelodie der Geilheit, der Unlust, der Gleichgültigkeit, der Missgunst, der Hoffnung, Enttäuschung, Angst und Verzweiflung, von der Tamara, Norbert und Ludwig getrieben sind. Die Spannung entsteht ganz wesentlich durch die sprachliche Form der Erzählung, dadurch, dass wir nicht wissen, was die Figuren tun werden, weil sie es in ihren Gedanken nicht aussprechen, dass wir aber aus den Sprachblasen ihrer emotionalen Ausdünstung erahnen, worauf sie zusteuern. Die emotionalen und sexuellen Exzesse, die Gewalt wird nie von einem außenstehenden Erzähler beschrieben, sondern immer von den Figuren erlebt, erfahren, ausgeübt und meisterhaft erzählt (siehe Leseprobe!). Dass wir alle von den Fantasieschändungen betroffen sind, die in diesem Roman begangen werden, in irgendeiner Weise, mag ihm einen bunten LeserInnenkreis bescheren. Denn wie gesagt – man kann das Buch nicht mehr weglegen!