#Roman

Großmutter und Lebensweisheiten und ich

Susanne Alge

// Rezension von Petra Nachbaur

„Ich wurde logischerweise nicht als Vollwaise geboren.“ Das ist kein guter Start. Nicht ins Leben, nein, nicht in einen Roman: Schon dieser erste Satz warnt den Leser vor einer Ich-Erzählerin, die keineswegs „Großmutter und Lebensweisheiten“ an erste Stelle setzt, sondern stets sich selbst, und dies in einer seltsamen, altklugen Sprache.

Erstens ist das gar nicht so logisch, angenommen eine Witwe stürbe bei der Geburt ihres Kindes. Vor allem aber ist „logischerweise“ ein sperriges und aufgeblasenes Wort, anstelle dessen auch etwas wie „naturgemäß“ stehen könnte, wenn man den sich selbst zuzwinkernden Inhalt schon unbedingt beibehalten will. Vor allem aber könnte der Satz ohne Adverb auskommen – oder gefällt der fabulierfreudigen Erzählerin, die im folgenden ja auch eine Geschichte nach der anderen entwirft, das Wortspiel mit „-weise“ und „-waise“ so überaus gut?

Der erste Eindruck trügt nicht. Die Ich-Erzählerin malt uns auf den folgenden 170 Seiten ihr Leben in ganz ähnlicher Sprache aus. Dieses Leben ist an sich äußerst bieder und brav und nur deshalb auffällig, weil es der Erzählerin selbst so außergewöhnlich, beinahe „flippig“ erscheint. In anhaltend selbstgefälliger Introspektive vertraut sie sich dem Leser an: „Ich habe es noch nie gewagt, jemanden zu fragen, ob er sich auch mit seinen Toten oder wenigstens einem von ihnen unterhält. Ich spreche oft mit Großmutter, aber ich bin unsicher, ob mir das nicht als Verrücktheit ausgelegt werden könnte.“ (S. 27) Huch! Welch Verrücktheit, in der Tat …

Von Freundinnen der Erzählerin spricht der Klappentext, die alle „ihren Weg gefunden“ hätten. „Nur die Erzählerin kann sich nicht entscheiden, eine wirklich feste Beziehung einzugehen, sich beruflich zu engagieren.“ Was hier – zugegeben, nicht das Problem der Autorin! – unter „wirklich feste Beziehung“ verstanden wird, ist die Frage, denn das einzige, was zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Dauer-Robert noch fehlt, ist der Trauschein, den ihr dieser zwar in regelmäßigen Abständen anbietet, der von ihr aber ebenso regelmäßig abgelehnt oder zumindest vorläufig vertagt wird. (Klischee-Verdacht! Ebenso wie angesichts der Beschreibung eines Frauentreffens, bei dem die Erzählerin als einzige ohne Nachwuchs sich gar so fehl am Platze fühlt!) Im übrigen ist dieser Robert stets auf Ab- und Anruf parat, mit „Entwurmungstabletten und allen Zutaten für gefüllte Paprika“, und während des ganzen Romans gibt es für die Ich-Erzählerin keinen anderen Mann, Frau schon gar nicht, und auch nicht das Bedürfnis nach Autonomie, Trennung. Was soll’s? Wir denken weiter über das „wirklich“ in der „wirklich festen Beziehung“ nach.
Ähnlich steht es um das berufliche Engagement der Erzählerin. Sie ist freiberuflich tätig, im Medienbereich. Ihr Job besteht darin, englischsprachige Printmedien auszuwerten nach Asien-Artikeln und diese dann zu übersetzen. Dieser Job mit der freien Zeiteinteilung und der Arbeit zu Hause macht ihr Spaß, und sie kann, knapp, aber doch, davon leben. Wenn’s dann einmal für irgendein Extra nicht reicht, springt prompt der gute Robert ein. Daß sie keinen größeren beruflichen Ehrgeiz entwickelt, stimmt, aber es gibt weder Sinnkrisen noch Existenzängste. So ist also sowohl privat als auch beruflich alles in „geregelten Verhältnissen“ und für Mitmenschen (Robert ausgenommen) und Leser nicht besonders interessant.

Eigen an dieser Ich-Erzählerin ist, daß sie ohne Geschwister und ohne Eltern bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist, und dieses Erinnern, in Erzählungen oder selbstgestrickten Zwiegesprächen, ist ein Hauptmotiv des Romans und macht auch dessen Stärke aus. Das Ringen um einen verstorbenen Menschen, hier noch dazu um die wichtigste Bezugsperson der Kindheit und Jugend, das Nachzeichnen und Umschreiben der Geschichte, des zwischenmenschlichen Verhältnisses, zieht sich wie ein Heftfaden durch das Buch und läßt es auch dort nicht aus der Hand legen, wo die selbstgefällige Ich-Erzählerin, die wohl nur ihrem Robert, der sie „Schubertine“ nennt, als ungemein originell erscheinen mag, über ihre eigenen Neurosen und die anderer Menschen nachsinniert, das alles aber nicht indirekt, sondern immer mit dem „Achtung! Neurose!“-Blinker.

Mit Bedacht auf dieses Verhältnis zwischen Großmutter und Enkelkind, die enge Bindung zwischen einer älteren, dann alten Frau, die gerne in „Lebensweisheiten“, Redewendungen, Sprichwörtern, Bibelzitaten spricht und einem Mädchen, dann junger Frau, die in dieser sprachlichen Umgebung heranwächst, verwundert auch die Sprache des Romans weniger und hört auf zu stören. Diese „junge Frau“ (Klappentext) – ihr Alter einzuschätzen ist schwer – erzählt und spricht wie ihre eigene Mutter, altvaterisch, also praktisch eine Generation verschoben. Und sie empfindet auch eine Generation zu spät – wahrscheinlich kommt sie sich deshalb so ausgefallen und „verrückt“ vor, weil es für ihre Großmutter wirklich noch freakig erschienen wäre, den fixen Partner halt nicht zu heiraten, in getrennten Wohnungen zu leben und sich eine Katze zu halten, freiberuflich zu arbeiten und sich Tagträumereien hinzugeben. Und so wird mehr und mehr klar, daß das, was der Erzählerin selbst als Unangepaßtheit, Zeitgeistverweigerung, „Fremdheit“ erscheint, eigentlich die mehr oder weniger verschrobenen Maröttchen und Schrullen eines älteren Menschen sind. Auch Fremdheit, aber eine andere eben.
„Ich höre jetzt schon alle (B. vielleicht ausgenommen) – aufschreien: Wie ich mir nur solche Perversionen ausdenken könne. Selbst der eine oder andere Therapeut würde an mein Über-Ich appellieren. Dabei lesen sie jeden Tag Zeitung, besitzen einen Fernseher und klinken sich ins Internet ein.“ (S. 118). Wären in diesem Text nicht Hinweise wie Internet und Gentechnologie eingestreut, könnte man glauben, er spiele womöglich gar nicht in den Neunzigern. Würden nicht die Namen Derrida und Derrick fallen, könnte man sogar zweifeln, ob der Text die 60er oder 70er (in der Provinz) schon hinter sich hat.

Die Geschichten, die die zwischen „Zitatekarteikarten“ und „Da hatte ich schon wieder den Salat!“-Kommentaren lavierende Erzählerin sich ausdenkt, kreisen aber nicht nur um die tote Großmutter. Längere Zeit befaßt sie sich mit einem Krimi, dessen Plot sie jedoch zu sehr an sie selbst gemahnt: „Die Geschichte liest sich nicht schlecht, aber diese Karin Müller ähnelt mir zu sehr. Eine Leiche zu verwechseln. Das kann doch nur mir passieren.“ (S. 45) Diese Sicherheit in der Einzigartigkeit, in der behaupteten Unsicherheit und der ach so gelungenen Ungeschicklichkeit oder vermeintlichen „Lebensuntüchtigkeit“, verpaßt der Ich- Erzählerin das Wesen eines „späten Mädchens“, irgendwo zwischen einer Ingrid Noll-Gestalt und der schwachen Ahnung einer Frauenfigur aus Bachmanns „Simultan“ (1964!).
„Vielleicht bin ich eine Art retardierter Seismograph“ (S. 95), bemerkt die Erzählerin einmal sogar selbst. Vornehm ausgedrückt, da es sich ja um sie selbst handelt, besagt dieses Moment des Verzögertseins, des Zuspätdranseins – bis auf die zitierte Ausnahme allerdings, ohne es zu bemerken – , genau den auffälligen Anachronismus dieses Buches.

Der Anachronismus liegt im Selbstbild und Selbstverständnis seiner Erzählerin einerseits, vor allem aber in der Sprache, in „ihrer“ Sprache, zugegeben. Man darf also keineswegs der Autorin anlasten, daß es ihr gelungen ist, eine Ich-Erzählerin mit einer ihr gemäßen, hausbackenen und altklugen Sprache zu versehen, anläßlich derer der geneigte Leser dann womöglich „schmunzeln“ sollte. Vielleicht ist ja das der „Sarkasmus“, der dem Buch und der Autorin attestiert wird. Dann ist der Roman gelungen und auch sehr mutig – welche Autorin entwickelt schon gern eine selbstverliebte Langweilerin von Hauptfigur und zieht sie auch sprachlich konsequent durch?
Wenn der Sarkasmus sich aber auf die Welt und die Gesellschaft bezieht, in die die Hauptfigur sich so schlecht einordnen kann, wenn der Sarkasmus der Pseudosarkasmus der Stimme der Erzählerin ist – und diese Unterscheidung ist nicht eindeutig zu treffen -, dann ist der Roman eher fragwürdig. Wenn die Geschichte mit der Großmutter im Mittelpunkt steht und diese Schubertine X. nicht nur dem Robert Y., sondern auch der Susanne Alge als spinnige, chaotische, ungewöhnliche, womöglich sarkastische Person erschiene, dann wirkte der Roman mit dem Erscheinungsjahr 2000 reichlich „retardiert“, um nicht zu sagen: verzopft.

Susanne Alge Großmutter und Lebensweisheiten und ich
Roman.
Stuttgart, München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2000.
174 S.; geb.
ISBN 3-421-05411-8.

Rezension vom 28.12.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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