Ein Liebender tritt auf wie ein Berührter nach einem Schlag: Seine Bewegungen als Rekonvaleszent drängen ihn, nach einem kurzen „schwarzen Sommer“ (S. 45) und einer „braunhaarigen Herbstin“ (S. 58), in eine eisige Winterreise. Alleingänge, denn „du bist weit fortgegangen“ (S. 39). Doch die Entschwundene ist überall, „als gingst du in der Luft“
(S. 62); am Strand „dehnen sich die Wellen / immer in deine Richtung“ (S. 49), und jede andere Berührung wird zur Berührung mit ihr: „Ein paar kleine Zweige aufgelesen / Spür die Knochen deiner Hand.“ (S. 35) Der einsame Wanderer zieht kosmische Schleifen: „Den Schultern von Orion / fehlt ein Licht wie du / mir fehlst. Ich geh im Raum / Spiralen.“
(S. 9). Doch der Suchende sucht nicht mehr wirklich, er spricht zum Verlust wie zu einem Gewinn, den er gefunden hat: „Bleib. Niemand sonst / kann sehn was folgt. Bleib.“
(S. 66) „Bleib“ heißt für ihn eigentlich: „Bleib fern!“ Ihm bleibt, wie ein Geschenk des Abschieds, eine beseelte Sicht der Natur. Poetische Ernte einer Winterreise.
Diese Gedichte nehmen die Bilder aus der Natur. Sie sind klar zu lesen wie Spielkarten, legen ihre Zeichen offen. Ihre Verschränkung nach verschiedenen Merkmalen lädt zum Gruppieren nach Motiven ein – wie beim Tarot. Ein Hauptmotiv ist der Regen, das Wässrige überhaupt in allen seinen Formen: als Hagel, Nebel, Meer. Entsprechend auch das Luftige: als Atem, Wind, Sturm, Atmosphäre. Man findet das Feuer in den Blitzen, das Feste in Felsen, Schnee und Eis. Einfachheit einer antiken Elementenlehre. Auch Bilder für Farben muten sapphisch an: „honigfarbene“ Wolke
(S. 65), „hautfarbener“ Sand (S. 48), „der rauchschwalbenfarbene Abend“ (S. 27). Die Grenze zwischen Metapher und Original ist aufgehoben: die Wolke ist Honig auf meiner Zunge, der Sand hat meine Farbe, der Abend macht mich flugbereit. Begrifflichkeit wird gemieden; die wenigen Abstrakta erscheinen personifiziert: „Ein Erdgeschoß wovor / paarhufig hart auftretend / das Entsetzen schreitet“ (S. 61), oder „Unergründbar geht die Zuneigung auf Pfoten“ (S. 7), oder wenn deine Seele „dich ansieht mit dem herzzerreißenden / kleinen Tränengesicht des Geparden“ (S. 25). Eine archaische Welt ohne Grenze zwischen mir und Natur, beseelt von Wesenheiten, deren Sprache mir noch selbstverständlich ist.
Aigners Gedichte sind „unherkömmlich“ (Sarah Kirsch), wohl auch in dem Sinn, daß die verachtete Naturlyrik wieder Wert bekommt. Sie sind reimlos, oft arhythmisch, antirhythmisch mit Stolperwörtern zwischendrin, manchmal „knirscht [die Rede] wie mit den Zähnen“ (S. 66), Vers und Sprechrhythmus kongruieren selten. Das aber macht sie nicht sperrig, sondern griffig: sie prägen sich auswendig ein, die Rätselwörter dienen dem inneren Souffleur als Merkzeichen.
Gelegentlich, etwa wenn einen eine Schlußzeile unvermutet anspringt, das Innerste berührend wie bei Rilke, zeigt sich die Nähe zum ganz Großen.