... aus der Textwerkstatt

Lorena Pircher

hat eine Erzählung eingereicht, in der wir uns nur sicher sein können, dass es ein angesprochenes Du gibt, während das umgebende Schloss, die Erinnerung und die Wahrnehmung sich stetig zu wandeln scheinen – einen Eindruck gibt der hier veröffentlichte Ausschnitt.
(Sabine Schönfellner / Leiterin der Textwerkstatt)

Die Möwenschreie lassen dich aufblicken in die sonnendurchflutete Kuppel, künstliches Licht, beinahe wie Sonnenlicht. Du fragst dich, woher du weißt, dass es nicht wirklich Sonnenlicht ist und es kratzt ein Gefühl unter deinen Fingernägeln, es fließt etwas durch deine Venen, zögerlich, dickflüssig – die Erinnerung an Wärme, die deine Arme bedeckte, draußen, vor ungewisser Zeit. Das Leben ist nicht das, was geschah, sondern das, woran wir uns erinnern und wie wir es erinnern, das hat A. einmal gesagt. Das hast du aufgeschrieben, damals. Du denkst oft an A. und wo A. nun ist. Manchmal ist dir, als wäre A. hier bei dir, im Schloss, und würde mit dir auf das Meer blicken, auf die Ebbe und die Flut, als würde A.s Gesicht deine Wange streifen, vielleicht nur durch einen hauchdünnen Spiegel getrennt, vielleicht hinter der Glaswand verborgen, ein kleines Lächeln im Mundwinkel, eine Augenbraue verwundert gehoben, verwundert über diesen Ort, an dem du nun lebst, ein fragendes Leuchten in den schattengrauen Augen, fragend, ob du dich noch an das erinnern kannst, was vor dem Schloss war.

Du weißt nicht mehr, wie lange du schon hier bist, aber du atmest noch die kühle Abendluft ein, die durch die Glasmalereien fällt, changierend, von rötlich ins Blasse, ins Blaue, ins Gelbe stechend. Anhand dieser Farben kannst du die Stunden ablesen, 14, 15, 16. Du vermerkst 17 in deinem Notizbuch und schleichst in den Saal 156, denkst darüber nach, wieso du eigentlich flüsterst. Haben sie dich gewarnt im Dorf, damals? Draußen, und du meinst Bilder zu sehen, Bilder nach der großen Flut, Häuser an Bergen klebend, suchende Insekten, ihre Fühler dem Himmel entgegengestreckt. Was haben sie gesagt im Dorf? Dass alles anders werden wird, dass wir weniger Mensch bleiben und doch genau deshalb menschlicher als je zuvor werden? Du flüsterst. Du weißt nicht, ob die Stimmen dich hören können, so wie du sie hörst. Du weißt nicht, ob sie dich lauschen sehen, wenn du hinter der Metalltür im obersten Stock wartest, ob sie sehen, wie du die Statuen betrachtest, ihre Verschiebungen genau misst, ihre Abstände mit den Fingern nachfährst, innehältst, überlegst, vermerkst, verzeichnest.

Du glaubst oft, dass sich noch andere Menschen im Schloss befinden, vielleicht alle, die du auch vorher gekannt hast, doch du weißt nicht mehr, wann das Vorher aufhörte und das Jetzt begann. Du denkst wieder an A., an A.s Art, Dinge zu sehen, den kleinen, etwas zu gekrümmten Finger, die dichten Augenbrauen, das schmale Lächeln, wenn A. von einem Text aufschaut, eine Diskussion über einen problematischen Aspekt in einem Buch beginnen will. Die Bilder sind oft klar, klarer, als sie früher waren, als du dich ganz zu Beginn zu erinnern versuchtest, vielleicht, weil du sie mittlerweile so oft heraufbeschworen hast, dass du dir nicht sicher bist, ob das, was sie zeigen, je überhaupt in dieser Form existiert hat. Dir ist nicht klar, ob die Bilder Träume, ob sie verdichtete Fantasien, abgewandelte Vorstellungen sind, oder ob sie eine mögliche Realität abbilden. Du blickst auf die kühlen Wände des Schlosses, sie wirken trotz der Statuen kahl und werfen Schatten, wenn die Sonnenstrahlen zwischen den Glasstäben wie Skelettfinger tanzen. Eigentlich müsstest du frieren, an diesem Ort, doch du frierst nie, du vergehst auch nie vor Hitze, du hast selten Durst und wenn, dann kannst du immer vom Meer trinken, das weder Süß- noch Salzwasser ist, aber sauber und transparent, das an den Marmorstufen leckt, sodass du darunter die Schachbrettfliesen erkennen kannst. Über dir wiegen sich die Neonröhren im Wind, und du denkst nur an A. und wie gerne du mit A. sprechen würdest. Du weißt, alles würde sich ändern, wenn du dich entscheiden würdest, das Schloss zu verlassen. Du könntest die leicht aufgeweichte Holztür öffnen und erkunden, was die Welt draußen ist, erfahren, wie die Welt sich geändert hat, verstehen, zu was die Welt und die Menschen geworden sind, seit du ins Schloss gekommen bist.

Lorena Pircher © privat

Lorena Pircher, geb. 1994 in Südtirol, studierte Vergleichende Literaturwissenschaften, Englisch und Französisch in Wien und Frankreich, Ausbildung zur Buchhändlerin. Veröffentlichung eines Gedichtbandes, mehrerer Erzählungen und einiger Gedichte in Literaturzeitschriften und Anthologien. Sie übersetzt aus dem Italienischen und Französischen und schreibt Lyrik und Kurzprosa.

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