Denn „fretten“, das im süddeutschen und österreichischen Sprachgebrauch für „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wund reiben“ steht – die Worterklärung ist dem Roman sicherheitshalber vorangestellt –, müssen sich hier nicht nur die Eltern und Großeltern, sondern auch deren Kinder, um ihren Platz in der Welt zu behaupten: „Dort, inmitten dieser Landschaft aus Trugbild und Erinnerung, wachsen Menschen heran, Halbwüchsige, Verwilderte, die unentwegt auf der Suche sind, aber nichts finden, die auf dem Weg sind und nirgends ankommen. Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Sie fretten sich durchs Leben, rein um des Überlebens willen.“ (S. 34)
Von der frühkindlichen Weichheit des „irdischen Paradieses“ aus „Daunentuchenten“, „Mutterkuchen“, „Vaterbäuchen“ und dem „Germteig der Urgroßeltern“ (S. 9) bleibt den Heranwachsenden nicht viel übrig; die Erwachsenen haben kaum Zeit für ihre Kinder, sie müssen hart arbeiten und sind mit ihren eigenen brutalen Machtkämpfen beschäftigt: „Die Großmutter war rigoros, vor allem Fremden gegenüber Unverwandten, die sich in blindem Gehorsam wie Leibeigene zu unterwerfen hatten. Dazu zählte auch die Mutter, die nicht nur von daneben kam, sondern sich auch danebenbenahm. Ihre Herkunftsfamilie genoss zwar gutes Ansehen im Ort, aber nichts und niemand war gut genug für ihren Königsspross.“ (S. 28f.)
Die Welt der Altvorderen ist den Jungen bald zu eng. Sie treten das vermeintliche Paradies mit Füßen und rotten sich zusammen, um mit Drogen zu experimentieren und in fremde Häuser einzudringen, wo sie Parties feiern und aktionistische Chaostage veranstalten. Sie alle leiden an „Herkunftshader“: „Was weiß ich, wo ich herkomme, ich würde es gerne vergessen, verdrängen, aber kaum bin ich wach, beschleicht mich mein Herkunftshader. In meinem Elternhaus waren die Leichen nie im Keller versteckt, sondern in der Stube gestapelt.“ (S. 94)
Auch die Protagonistin setzt die Familientradition fort, wird selbst Mutter und gerät nach den Mühen von Schwangerschaft und Geburt, die ungeschönt und blutig geschildert werden, mitsamt dem Nachwuchs wieder in die Fänge der umsorgenden Großfamilie, denn „Sorgen und Särge liegen eng beieinander“ (S. 123). Nicht weit ist auch hier das Schlaraffenland „von Vierkanthöfen aus Pofesen und Bauernkrapfen, von Gewächshäusern aus gebratener Gänsehaut und blauen Wundern, von Griesgramnockerlsuppen und beleidigten Leberwürsten, von Sickergruben voll Beuschel und dem Mürbteig, aus dem die Menschen hier gemacht sind.“ (S. 136)
Adlers Fabulierlust ist gigantisch – mühelos bedient sie sich bei mythologischen, literarischen, musikalischen und künstlerischen Traditionen, die sie gekonnt zu eindrucksvollen und sinnlichen Bildern montiert. Ihr poetologisches Programm ist dabei so radikal wie kompromisslos: „Und wem der Sinn nach etwas anderem steht, der erblinde an diesem Text, der verschlucke sich an seiner eigenen Zunge, der erhänge sich am fehlenden Handlungsstrang und folge in gerader Linie dem kurzen Prozess von Leben und Tod.“ (S. 36) Fretten ist wahrlich nichts für zarte Gemüter, sondern garantiert eine rauschhafte wie mitreißende Lektüre – Entzugserscheinungen inklusive!
Veronika Hofeneder ist freie Literaturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Wien. Leitung und Durchführung mehrerer wissenschaftlicher Editionsprojekte zu Gina Kaus und Vicki Baum. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur der 1920er- und 1930er-Jahre, Österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur von Frauen, Literatur und Individualpsychologie, Feuilletonforschung, Editionsphilologie. https://www.germ.univie.ac.at/veronika-hofeneder/