Ganz anders als bei Franz Innerhofers Klassiker Schöne Tage, in dem einer mühsam zur eigenen Sprache und damit Selbstbestimmung findet, ist dieses Bauernmädchen immer Herrin der Worte. Sprachgewaltig und einfallsreich malt es die Zu- und Umstände eines Heranwachsen in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts im ländlichen Salzburg aus. Auch so ergeben die von Bildern entliehenen Überschriften Sinn. Helena Adlers Text hat durchgehend etwas Beschreibendes, das Erzählerische geht darin auf. Die Art, wie die Autorin im buchreport.magazin (01/2019) ihren Roman in drei Sätzen zusammen fasst, macht das deutlich: Ich erzähle die Geschichte eines Bauernmädchens, eines Aschenputtels, das anstatt gläserner Schuhe dreckige Stallstiefel trägt. Es will die bösen Stiefschwestern zur „Ernte am Watschenbaum“ zwingen, und es gefällt ihm, wenn Hämoglobinrot auf den Asphalt spritzt, weil es einmal Jackson Pollocks drippings studieren möchte. Eine kratzbürstige Alice im Hinterland, die gelernt hat, sich zu wehren.
Also Zurückhaltung geht anders. Von den Zwillingen, die Eiskunstlauf als Leistungssport ausüben, will keine „mit der anderen den Erfolg teilen.“ Die jüngere Schwester „dagegen würden sie am liebsten in Stücke reißen“. Diese wiederum hofft, dass zumindest ein Elternteil überlebt, „wenn sie versucht haben, sich gegenseitig abzuschlachten.“ Damit sie nicht in die Obhut der Zwillinge gerate. Auf den Punkt gebracht notiert die Erzählerin: „Wir haben zehn Gefrierschränke, darin sind zwanzig Rinderhälften eingefroren, das nennt man artgerechte Haltung. Du lebst auf dem Schlachthof, denke ich. Du bist Schlachtvieh, das auf den Bolzenschuss wartet.“
Gabriele Kögl, deren Debütroman Das Mensch (WallsteinVerlag, 1994) auch eine ländliche Kindheit zum Thema hat, meinte einmal, dass Texte über die Kindheit hauptsächlich von Leuten geschrieben werden, die vom Land kommen. Denn das Landleben sei reichhaltig und es rege zu einer Sprache an. Helena Adler ist ein Beleg für diese These. Sie benennt ausdrucksstark Schwächen, Charakterfehler, Groteskes von Menschen aus Großfamilie, Dorf und schulischem Umfeld. Dabei endet der Text überraschend mit einer Art Utopie: „Der Blinde erzählt dem Verstummten und der Verstummte findet Besänftigung im geschriebenen Wort.“ Und schließlich gibt es ganz zum Schluss eine sehr lange Liste der Danksagung: „[…] Den Urgroßeltern. Den Großeltern. Den Eltern. […] Den Schwestern. […] Der Sippe. […] Dem Berg. Und seinen Bewohnern. Dem Dorf. […]“ Schade, dass damit bestätigt wird, was sich beim Lesen immer schon andeutet: Es ist alles nicht ganz so gemeint, wie es da aus lustvoller Fabulierlaune daherkommt.
Helmut Sturm, Studium der Theologie, Germanstik, Publizistik in Salzburg, war AHS-Lehrer in Linz, Lehrbeauftragter an der Universität Linz für Deutsch als Fremdsprache, Literaturkritiker. 1988-1996 Lehrtätigkeit in Washington D. C. Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften, Rezensent für die Salzburger Nachrichten und literaturkritik.de.