Mäander setzt mit Schwarzbauers Entdeckung ein, dass es in Kanada Familienmitglieder gibt, zu denen der Kontakt abgebrochen ist. Während des Ungarischen Volksaufstands von 1956 flohen seine Großmutter und deren Schwester Edith aus ihrer Heimat – die eine nach Österreich, die andere nach Kanada. Fasziniert von dieser Geschichte, begann Schwarzbauer zu recherchieren, reiste schließlich nach Kanada und interviewte vier der Familienmitglieder. Er folgt dabei ganz unterschiedlichen Leben, die auch je einen unterschiedlichen Blick auf die Familiengeschichte zeigen. Das Erzählen und – im doppelten Sinn – Aufzeichnen von Oral History, also der mündlichen Erzählungen von Zeitzeug:innen, hat im Medium Comic mit Art Spiegelmans MAUS (1986-1991) – Spiegelman interviewte seinen Vater, einen Shoah-Überlebenden – eine zentrale Referenzarbeit.
Comics zeichnen sich dabei durch die Möglichkeit einer unmittelbaren Konfrontation verschiedener Perspektiven aus – so etwa durch die spezifische Verbindung der Wort- und Bild-Ebene, durch die Gleichzeitigkeit der einzelnen Panels auf den (Doppel-)Seiten sowie durch die Verdichtung von Räumen und Zeiten. Dementsprechend nehmen Comics mittlerweile in der Auseinandersetzung mit und Tradierung von Lebensgeschichten eine wichtige Rolle ein, wobei nicht nur die Wiedergabe des Erzählten, sondern auch die Thematisierung des Aufzeichnungs-Prozesses selbst zentral ist.
Schwarzbauer findet für diese zwei Ebenen auch formal eine Zweiteilung: Während Recherche, Reise und Erleben des autobiografischen Ich in Tusche gehalten sind, sind die Passagen, die die Erzählungen der Verwandten wiedergeben, als Halbtonbilder angelegt, bei denen das Bildpunkt-Raster klar sichtbar über die Zeichnungen gelegt wurde. So wird nicht zuletzt das Medium selbst und damit der Prozess der Medialisierung thematisiert.
Die biografischen Abschnitte fallen zudem dadurch auf, dass die transkribierten und ins Deutsche übersetzten Erzählungen ausgelagert sind: Jeweils auf der linken Seite kommt der Text zu stehen, jeweils auf der rechten Seite sind die Bildelemente angeordnet. Der Platzierung des Textes links entsprechen weiße Flächen rechts; wenn das Buch zugeschlagen wird, fügen sich also die Textpassagen in die weißen Flächen. Diese Anordnung hebt etwas hervor, das das Medium Comic überhaupt kennzeichnet, nämlich die Durchbrechung unserer Lesegewohnheiten (von links oben nach rechts unten). Hier sind wir ständig dazu angehalten, hin und her zu springen – von Text zu Bild und wieder zurück – der Frage folgend, wie das eine sich durch das andere kontinuierlich verändert. Zudem ergibt sich auf den linken Seiten jeweils viel weißer Raum, der eben auch darauf verweist, dass es notwendigerweise viel Ungesagtes gibt. Schwarzbauer schafft so eine Distanz zum Erzählten: Wie können fremde Leben erfahrbar gemacht werden? Kann Oral History überhaupt übertragen und aufgezeichnet werden? Der Titel, Mäander, kann dementsprechend metaphorisch verstanden werden – eben nicht als geradlinige, sondern vorsichtige Annäherung an das Thema.
Gleichzeitig bezieht sich der Titel auch auf einen zentralen Ort und ein wichtiges Motiv des Comics. Das Kapitel Serpent River, benannt nach einem Fluss, der sich durch seinen mäandernden Verlauf auszeichnet, widmet sich Steven, Ediths Enkel, der aufgrund der Abstammung seiner Mutter zur Stammesgruppe der Anishinaabe gehört. Schwarzbauer erzählt anhand von Stevens Geschichte von der Kolonialisierung Kanadas, vom kulturellen Genozid an First Nations und bietet – wie auch an anderen Stellen – begleitende Fußnoten, die historische Ereignisse und Begriffe erklären. So zum Beispiel das Residental School System, bei dem indigene Kinder ihren Eltern gewaltsam abgenommen wurden, ihre Sprache nicht mehr sprechen durften und häufig Opfer von (sexualisierter) Gewalt wurden. Die wiederholten Funde von Massengräbern in Kanada in den letzten Jahren lenken verspätet den Blick auf diese kolonialistischen Gewaltakte. Stevens Geschichte ist also nicht nur eine, die sich mit der europäischen Vergangenheit der Familie beschäftigt, sondern auch eine, die Kolonialisierung, strukturellen Rassismus und kulturellen Genozid zum Thema macht.
Auch über die Geschichte Stevens hinausgehend entwickelt Schwarzbauer in den biografischen Passagen detailreich einzelne Szenen und kontrastiert Perspektiven auf das Geschehene – so etwa die Erinnerungen von Ediths Kindern George und Maria an die Kindheit im ungarischen Györ, die Flucht von Ungarn nach Österreich und schließlich die Emigration nach Kanada. In den autobiografischen Abschnitten hingegen, die sich unter anderem auf die Interviewsituationen und das eigene Erleben konzentrieren, verwendet er immer wieder Close-ups und ganzseitige Darstellungen, die die Interviewpartner:innen und damit ihren Blick auf das Erzählte ins Zentrum stellen.
Im Zusammenspiel dieser beiden Erzählebenen zeigt sich Mäander als ein akribisch gezeichneter Comic, der entlang wichtiger gesellschaftspolitischer Themen autobiografisches Erleben und biografische Aufzeichnungen gegenüberstellt, ohne dabei endgültige Antworten finden zu wollen. Mäander funktioniert dabei nicht nur als Titel, sondern auch als Motto für die formale Arbeit, die die Annäherung an das Erzählte und das eigene Erleben, das Prozesshafte verdeutlicht.
Marina Rauchenbacher ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie arbeitet am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw) im Projekt Visualitäten von Geschlecht in deutschsprachigen Comics sowie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Editionsprojekt zu Arthur Schnitzlers Frühwerk. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Comics (OeGeC) sowie Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Kulturanalyse (aka). Für das Sigmund Freud Museum Wien kuratierte sie unter Mitarbeit von Daniela Finzi die Ausstellung Gewalt erzählen. Eine Comic-Ausstellung, die noch bis 8. April 2024 zu sehen ist.