#Prosa

Das Schlaue vom Himmel

Ilse Kilic

// Rezension von Evelyn Bubich

Das Bold Hearts Book

Ilse Kilic lässt in Das Schlaue vom Himmel ihre bereits erprobte Protagonistin Mimi La Whipp als Privatgelehrte nach einer „Theorie von Allem“ forschen, während in ihr eine Hoffnung wächst: auf eine Maschine, mit der es gelingt, die Welt zu verbessern. Und so beginnt Mimi La Whipps wundersame Reise in die Welt der Vorstellungskraft und Möglichkeitsräume, auf die sie Leser:in und Figuren begleiten dürfen – um mit ihr gemeinsam die Welt ein Stück liebenswerter zu machen.

Am Anfang war der Beutel, so lautet ein Buchtitel der Autorin Ursula K. Le Guin; am Anfang war also der Beutel, denn es sei eben „wichtig, Dinge aufbewahren zu können, für sich, für andere, für andernorts, für später“ (Kilic, S. 142). Diese Dinge können durchaus auch Figuren sein oder Gedanken, solche zum Beispiel, die in einem Buch enthalten sind, in einem der Bücher, die Ilse Kilic geschrieben hat, zum Beispiel, und in denen sich ja bekanntlich immer viele Figuren und „streunende Gedanken“ versammeln, insbesondere deren Möglichkeiten, sich ein „eigenes Schicksal zu erfinden“ und sich miteinander zu verstricken. Auch in ihrem neuesten Buch bewegt sich die Autorin mit ihren, ihrer Leserschaft teils schon bestens bekannten Figuren, wie der „literarischen Beraterin“ Suzie Traktor oder Mimi La Whipp, in Möglichkeitsräumen. Ein Beutel voller Möglichkeiten (oder Unmöglichkeiten) wäre das dann also; aber bevor diese in einem Beutel landen – oder in einem Bierfass, wie die Autorin oder gar ihre literarische Beraterin Suzie Traktor mutmaßt, denn auch in einem Bierfass können Figuren und Gedanken aufbewahrt werden – landen sie inmitten der Möglichkeiten von Das Schlaue vom Himmel.

So ein Buch ist auch ein ganz idealer Ort für eine Mimi La Whipp, die an diesem sogar unsterblich werden könnte; und so ein Buch kann auch ganz generell ein ganz besonders herausragend vielsinniger Ort für Möglichkeiten sein: Mit dem Medium Buch treten Autorin, Figuren wie auch die Leser:innen die Reise in den Welt- wie zugleich Möglichkeitsraum mit viel Eigensinn und Vielsinn und Fürsinn und Großsinn und Feinsinn an.

Mimi La Whipp bewegt sich dieses Mal in der Rolle der Forscherin durch diese Möglichkeitsräume; einer als Versuchsunordnung deklarierten literarischen Anordnung, die sich aus unmöglichen Begebenheiten, Begegnungen, Verstrickungen und nicht zuletzt Gedanken, die ohne literarische Hilfe von Verknüpfungen unter Umständen drohen würden zu verwaisen oder gar überhaupt nicht mehr zu existieren, zusammensetzt. Hierfür schlüpft Mimi La Whipp in den Kopf einer „nach Wissen hungrigen Privatgelehrten“, die auf der Suche ist nach der „Theorie von Allem“ beziehungsweise voller Hoffnung auf eine „Maschine zur Verbesserung der Welt“: sozusagen das Gegenteil vom Blauen vom Himmel, oder eben auch nicht …

In der Versuchsunordnung trifft Mimi La Whipp dabei alsbald – und nachdem im Rahmen einer literarischen Lesung mit dem Veranstaltungstitel „In Scherben“ bereits eine Begegnung zwischen den beiden stattgefunden hatte – auf die Figur „Mein Spatz“, der/die/das eigentlich Leser:in unbestimmten Geschlechts ist und der/die/das sich um einen Auftritt im literarischen Text Das Schlaue vom Himmel. Eine Versuchsunordnung bewirbt, vorher jedoch erstmals das Licht einer oder mehrerer Welten „in einem Essigkrug“ erblickte. Gemeinsam ist der Weg nach der Suche nach einer „Theorie von Allem“ vielleicht leichter zu bewältigen, gemeinsam ist man weniger allein. In einer dunklen Zeit der Abgrenzung, in der Krieg, Hass und falsche Prophetie die Gesichter der Menschen verzerrt und ihre Blicke verdunkelt, scheint die Theorie vom Zusammenschluss und der Gemeinsamkeit besonders hell leuchten zu müssen. Und das tut sie in diesem klugen, gedankenreichen wie liebevollen Buch (das man so schnell nicht in einen Beutel legen wird).

Das Schlaue vom Himmel selbst bewahrt sich neben unterschiedlichen literarischen Gattungen wie Lyrik und Prosa sowie keck-ironischen Comic-Illustrationen der Autorin auch einiges andere auf, etwa einen lyrischen Text von Dichterkollege Andreas Pavlic („Was uns fehlt ist / eine richtig gute Theorie / von der Welt / es kennt sich ja niemand mehr aus“; S. 34) oder zahlreiche Verweise auf andere literarische und künstlerische Werke oder weiterführende Gedanken, die Das Schlaue vom Himmel zu einem dicht verwobenen Konglomerat aus den Materialien, aus welchen eine literarische Versuchsunanstalt gebaut ist, heranwachsen lassen. Oder man erfährt zum Beispiel etwas über gesellig lebende Karpfenfische, die „in Gewässern mit kiesigem oder sandigem Grund und Pflanzenbewuchs“ (S. 45) oder in einem Märchen „über das Erlernen des Fürchtens“ (S. 44) im Bett eines frisch vermählten, jungen Mannes ihr Vorkommen finden. Zumindest in der real existierenden Welt hätten diese – genauso wie Mimi La Whipp, wie Ilse Kilic in einer Fußnote vermerkt – wahrscheinlich keine Chance. „Die Sprache spricht von / der Wirklichkeit, deren Teil sie ist / Ein schwieriges Unterfangen / aber nicht aussichtslos“, sagt die Schriftstellerin an ganz anderer Stelle, nämlich in ihrem und Fritz Widhalms Film Das süße Leben als immerwährende Karotte. Eine Utopie von Mimi La Whipp.

„Real ist das, womit man fertig werden muss“, zitiert Ilse Kilic den kanadischen Philosophen und Politikwissenschaftler Charles Taylor. Im möglicherweise nicht realen Bold Hearts Pub, zentraler Schauplatz in Das Schlaue vom Himmel, spielt der Gedanke des Zusammen- und Gemeinsamseins eine bedeutende Rolle. Eine der Bewohner:innen war früher einmal Piratin und trägt heute ein Vogelnest im Haar; es werden Ideen besprochen „zur Veränderung der Welt“, wie zum Beispiel bedingungsloses Grundeinkommen oder ein probeweiser Versuch einer „wunderbaren Geldvermehrung“. Ob das Bold Hearts Pub nun auch in der realen Welt existiert, geht nicht ganz hervor, denn vielleicht ist es ja einfach nur „aus der [realen] Welt gefallen“ (S. 48)? Es braucht viele mutige Ideen und „es braucht viele Zuflüchte“ (S. 51) – und das Bold Hearts Pub ist eine davon – wie dieses Buch von Ilse Kilic, eben ganz Bold Hearts Book.

PS: Und so ganz am Rande, weil es gerade passend erscheint: Gehören literarische Figuren irgendjemandem und was passiert eigentlich mit ihnen, wenn sie nach ihrem Verzehr durch eine:n Leser:in in einem Beutel verschwinden? Möglicherweise gibt es die Unsterblichkeit eines Textes beziehungsweise seines Personals – so würde sich der Verzehr zumindest nicht als tödlich für die Figuren erweisen. Alle Macht der Fiktion! Auf Antworten kann man möglicherweise im literarischen Versuchslabor von Ilse Kilic stoßen – oder man befragt die neueste Form der Künstlichen Intelligenz, die sich ja auch schon mit der Theorie von Allem beschäftigt (oder beschäftigen lässt) und zum Glück sehr möglicherweise scheitern wird, weil es kein Alles gibt. Zum Glück – oder?

 

Evelyn Bubich, geboren 1988 in Klagenfurt, studierte Komparatistik, Digital Media Publishing und Kommunikationsmanagement; Autorin, Lektorin, Literaturvermittlerin; Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Tageszeitungen und Anthologien sowie im Freien Radio; Literatur-Performances und genreübergreifende Arbeiten; Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Podium, Vorstandsmitglied der IG Autorinnen Autoren; lebt in Wien. 
Homepage von Evelyn Bubich

Ilse Kilic Das Schlaue vom Himmel. Eine Versuchsunordnung
Klagenfurt: Ritter Verlag, 2023.
152 Seiten, broschiert.
ISBN: 978-3-85415-661-1.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 13.02.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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