... aus dem LHW Textforum 2024

STRANSKY Total Recall (Ausschnitt)

Totall Recall ist eine Kurzgeschichte aus dem Buchprojekt WEST END GIRLS. Ein Rückfall in das Wien der 80er Jahre

Inhalt der Erzählung: Trixi Schubert wird plötzlich Jahrzehnte zurück in das Wien der 80er Jahre katapultiert. Just an jenen Tag, an dem sie einst als 17-Jährige unfreiwillig Zeugin einer Kuss-Szene zwischen ihrem Freund und der Rosi wird. Es bricht ihr das Herz, und Trixi die Beziehung ab. Er will darüber reden, sie nicht. Der Ex erzwingt schließlich eine Aussprache und sie sucht Zuflucht bei seinem Freund. Zwischen ihnen beginnt ein Gspusi, aus dem mehr wird.

Im folgenden Textausschnitt hat Trixi gerade erst fluchtartig das Büro verlassen …

 

Sie steigt in Meidling aus und steuert auf der Schönbrunner Straße den Bio-Supermarkt an. Eine junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen, kommt auf sie zu. Wie sich die bewegt, kommt ihr vertraut vor. Diese jungen Dinger ziehen sich heute wieder genauso an wie wir damals, denkt sie. Das Mädchen trägt ihr platinblond gefärbtes Haar kurz, wache Augen mit viel schwarzem Kajal im Puppengesicht. Von einem Ohr baumelt etwas, das wie eine Glühbirne aussieht. Komplett schwarzer Look: Ärmelloses T-Shirt, glockiger Rock mit Zipfeln bis knapp zum Knie, schwarzer Gürtel mit Piratenschnalle, Netzstrumpfhose, flache Pumps.
Das Mädchen geht nun direkt auf sie zu. Kennt mich die? Trixis Kreislauf sackt ab. Hier mitten auf der Straße zusammenbrechen? „Reiß dich zam“, befiehlt sie sich selbst und stützt sich an der Hauswand ab. Ihr wird schwarz vor Augen.

Es ist dunkel. Es ist Nacht. Um sie herum eine Traube junger Leute. Vor dem U4 lässt Türsteher Conny de Beauclair seinen Blick über die Köpfe wandern: Viel Blond und Schwarz, asymmetrische Schnitte, punkige Frisuren. Ein paar sehen auch ganz normal aus. Die warten erfahrungsgemäß am längsten auf Einlass ins Wiener Nachtleben. Das U4 ist die angesagteste Disco in der Stadt, Treffpunkt der Musikszene. Falco hielt hier Hof.
Conny sieht sie an und signalisiert ihr Einlass. Sie schenkt ihm ein kleines Lächeln. „Nur nicht zu sehr strahlen“, ermahnt sie sich. Das wäre zu anbiedernd. Der rechte Türflügel öffnet sich. Sie passiert, übergibt drinnen jemandem den Geldschein in ihrer Hand und kriegt dafür einen Stempel auf den Handrücken und einen fadgrünen Bon wie im Schwimmbad. Sie nimmt die Treppe hinunter in den Club.
Die Musik wird lauter. Es spielt Tainted Love von Soft Cell. Der Synthesizer geht ihr durch und durch. Sie liebt diesen Song. War eine Zeitlang ihre Hymne. Im Spiegelbild neben der Garderobe sieht sie jetzt das Mädchen wieder. Es streicht sich das Haar aus der Stirn. Zeitgleich mit ihr. Doch neben ihr, da ist niemand. Hinter ihr auch nicht. Nur schwarz lackierte Betonstiegen. Sie blickt an ihrem Körper hinab. Wo ist die Oberweite hin? Und was hat sie da nur an? Sie trägt ein T-Shirt, ein Röckchen – ein Fähnchen. Alles schwarz. Arme mit babyglatter Haut, schlanke Beine, netzbestrumpft. Ein junger Körper mit einer Glasur von Babyspeck. Sie zwickt sich in die Wange. Ordentlich, bis es weh tut. Das Mädchen auch. Sie ist es. Sie ist das Mädchen.
Eine 17-Jährige mit jahrzehntealten Erinnerungen: Doch nicht diese Nacht im U4?
Sie hat nichts bei sich, was an der Garderobe abzugeben wäre, und geht weiter Richtung Tanzfläche. Den Getränkebon in den BH? Im Rockerl findet sie zwischen den Zipfeln praktischerweise eine Tasche und dort ist auch ein pastelltürkis lackiertes Zigarettenetui. Unter den Tschick ein weiterer Zwanzig-Schilling-Schein. Aber sie hat kein Feuerzeug bei sich. Eine Zigarette wär‘ jetzt was. Sie raucht seit gut 20 Jahren nicht mehr, aber nachdem sie ja jetzt noch keine 20 ist …
Sie nimmt eine Zigarette aus dem Döschen, stellt sich an den Rand der Tanzfläche und schaut zu, wie sich ein paar Leute zu RUN-D.M.C. bewegen. Zu Rap tanzt sie halt nicht. Sie steckt sich den Tschick in den Mund und dreht sich zu dem Typen neben ihr. Er gibt ihr Feuer. Sie zieht an, inhaliert, bläst den Rauch langsam aus. Wie hat sie das nur vermisst.

„Sie rauchen ja Kette, Fräulein“, hat einmal die Tante ihres Freunds zu ihr gesagt. Wo ist der eigentlich? Und auch die anderen, wo sind die nur? Die kommen sicher bald. Sie sucht ihr Handy. Sehr witzig, denkt sie. Am Handgelenk trägt sie eine winzig kleine Uhr mit reflektierenden Zeigern. Es ist kurz nach elf. In der nächsten halben Stunde sollten sie eintrudeln.
Der Typ, der ihr Feuer gegeben hat, kommt nun näher und spricht ihr ins Ohr: „Wie heißt Du?“
„Trixi.“
„Schaust hungrig aus“, sagt er. „Kommst mit zum Würstelstand? Bist eingeladen.“ Einen Schmäh hat der … Er schaut auch ganz süß aus mit seinem wuscheligen Schopf. Ob das eine Dauerwelle ist? Sie schüttelt trotzdem den Kopf. „Danke, ist lieb von Dir, aber …“ „Ich bin Vegetarierin“, hätte sie jetzt fast gesagt. Damals gab‘s in Wien vielleicht drei Vegetarier. „Ich hab‘ schon gegessen“, sagt sie.

Lieber auf die Tanzfläche, als sich hier anbraten lassen. Auf RUN-D.M.C. folgt nun Billy Idols Eyes without a face. Die Tanzenden wiegen sich zum Engelschor, der „Les yeux sans visaaage“ singt. Der schöne Billy ist ihr Idol. So wie er, so wollte sie damals am liebsten selbst aussehen. Als Nächstes legt der DJ den Kommissar auf. Und Trixi tanzt.
Bis sie einen Riesendurst kriegt. Also ab Richtung Klo, um sich unter die Wasserleitung zu hängen. Der Getränkebon wird für später aufgespart. Die Damentoilette des U4 ist stilvoll heruntergekommen. Genau in der Mitte der verspiegelten Wand entlang der Waschbecken steht eine Lichtgestalt. Eine New-Wave-Göttin, gertenschlank mit endlosen Beinen in schwarzen spitzen 50er-Jahre-Stilettos und Strümpfen mit Naht. Drüber nichts als ein cremefarbenes Sakko, das haarscharf beim Po endet und durch einen breiten Lackledergürtel in der Taille zum Kleid definiert wird. Kurzes, wildes, blondiertes Haar im Stil von Annette Humpe. Mit einer Zigarette im Mundwinkel und einer weiteren hinterm Ohr checkt die Superfrau ihr super Spiegelbild. Trixi geht ein wenig verunsichert hinter ihr vorbei zum letzten Waschbecken in der Reihe. Das Neonlicht hier drinnen macht so einen g‘spiebenen Teint, denkt sie. Sie hätte Mamas Make-up auflegen sollen.
Mittlerweile ist es kurz vor Mitternacht. Wo bleiben ihr Freund und die anderen nur? Sie wird rauf schauen, ob die schon draußen vor der Tür stehen.
Sie huscht seitlich der Tanzfläche an ein paar zu Madonnas Into the Groove Tanzenden vorbei und erklimmt die Stiege Richtung Ausgang. Alles ist schwarz: Die Stufen, die Wände, die Decke. Nur durch die verspiegelte Türe sieht man wie durch ein Schaufenster von drinnen nach draußen und im Lichte der Schönbrunner Straße auf die Ansammlung der auf Einlass Wartenden. Die Türe ist zu. Trixi nimmt noch ein paar Stufen Richtung Ausgang und bleibt abrupt auf einer der letzten stehen. In der Mitte der Gruppe da draußen steht ihr Freund. Er küsst eine andere. Leidenschaftlich. Es ist die Rosi. Er hält sie in seinen Armen, eng aneinander gepresst stehen die beiden in der Menschenmenge, ohne sich darum zu kümmern, was um sie herum ist.

Wie vom Blitz getroffen, wie ein Verkehrsunfall in der Sekunde des Aufpralls. Es gibt kein Zurück mehr in die Welt davor. Schlimmer als alles jemals. Viel ärger als damals, als sie zu früh zu einem ihrer ersten Rendez-vous erschien und die letzten zehn Minuten, den Treffpunkt aus sicherer Entfernung im Blick, zuwartete. Der Bursch war überpünktlich, doch nicht allein. Mit heißem Geschmuse verabschiedete er eine andere – eine hübsche Brünette, setze sie in die Straßenbahn – winke-winke, Bussi-Bussi – und wartete dann lässig rauchend an eine Hauswand gelehnt auf sie, seine zweite Verabredung an jenem Samstag. Damals war Trixi noch in der Unterstufe, trotzdem wusste sie von Anfang an, auf was sie sich mit diesem Typen einließ. Aber das war ihr gar nicht so wichtig. Sie war ein bisserl verknallt, aber eben nicht total. Er war fesch und küsste gut, und sie wollte vor allem eins: ein wenig Erfahrung sammeln.
Das damals war jedenfalls Pipifax gegen das hier jetzt. Das ist eine ganz andere Nummer. Ihre Welt geht da oben vor ihren Augen gerade unter. So hart, so ur brutal bricht dieses Ende einer tiefen Liebe über sie herein. Sie sind doch vernarrt ineinander? Gewesen.

Die verspiegelte Türe öffnet sich, und ein paar Leute werden eingelassen. Trixi dreht sich auf der Stelle um, um zurück in die Dunkelheit der Disco zu fliehen. Sie muss hier irgendwie ungesehen rauskommen, aber wie? Die Flucht nach vorne ist ausgeschlossen. Sie kann jetzt nicht an den beiden vorbei. Das schafft sie einfach nicht. Gehetzt sucht sie nach einem Ausweg und macht sie sich auf den Weg zurück in den Club, wieder Richtung Klo. Glücklicherweise ist eines der Häusln frei. Sie schließt die Tür hinter sich und übergibt sich erst einmal. Danach setzt sie sich auf den Klodeckel, wartet, ob etwas nachkommt, und starrt dabei auf die vollgeschmierte Tür. „Wundes Herz“ steht da neben einer miserablen Zeichnung von – was soll das bitte sein? Eine Zwetschke?
Die zweite Runde bleibt aus. Ausgekotzt. Sie öffnet die Türe und geht wieder zum Waschbecken in der Ecke. Die Superfrau unterhält sich nun mit einer anderen Superfrau mit schwarzen, punkigen Haaren. Die beiden sehen Trixi ein wenig mitleidig an. Die glauben sicher, ich hab‘ mir den Finger in den Hals gesteckt, denkt sie. Sie wäscht sich das Gesicht, schaut in den Spiegel und beginnt zu heulen. „Ja, Mädchen, was ist denn los?“, fragt die Göttin. Trixi schildert unter Tränen ihre Situation, und dass sie hier unbedingt ungesehen raus muss. „Das kriegen wir hin“, sagt die Göttliche, und ihre Freundin nickt.

© Ruth Reitmeier

Ruth Reitmeier, Foto: © Suzy Stöckl

STRANSKY ist ein Wiener Autorinnen-Duo.
Die STRANSKY-Erzählung Total Recall aus WEST END GIRLS. Ein Rückfall in das Wien der 80er Jahre stammt aus der Feder von Journalistin Ruth Reitmeier.

Ruth Reitmeier, geboren in Wien, aufgewachsen ebenda. Ihre Studienzeit und ersten Berufsjahre verbrachte sie zwischen Wien und London. Promotion 1994.
Als Journalistin arbeitete Ruth Reitmeier für die Tageszeitungen KURIER, WirtschaftsBlatt und Der Standard sowie die Magazine profil, Falstaff und NEWS.

Homepage von Ruth Reitmeier

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