#Roman

Sprung ins Leere

Heinrich Steinfest

// Rezension von Veronika Hofeneder

Eine Rezension über einen Roman von Heinrich Steinfest zu schreiben, ist jedes Mal eine Herausforderung – eine Synopsis der ausufernden Handlung zu liefern, ist ein Ding der Unmöglichkeit, und einzelne (Welche der zahlreichen ineinander verwobenen?) Erzählstränge vorzustellen, wirkt bald einmal banal.

Zumal läuft man Gefahr, den potenziellen Leser:innen das Vergnügen zu vermiesen, denn dieses besteht zu einem großen Teil darin, sich bedingungslos Steinfests aus-, ab- und umschweifendem Erzählstil hinzugeben, der Skurrilitäten und scheinbar Unwichtiges zu den waghalsigsten Arrangements zusammenführt. Steinfest auf seinen verschlungenen, aber nie abwegigen Pfaden zu folgen und in ein phantastisches Paralleluniversum einzutauchen, ist jedes Mal aufs Neue ein ganz besonderer Genuss. So passiert es mindestens einmal im Jahr (das ist in etwa die Publikationsfrequenz des Schnell- und Vielschreibers, der auch regelmäßig seine Krimi-Reihe um einen Band bereichert), dass man sich im Leserausch unversehens um die Nachtruhe bringt, hat man einmal mit der Lektüre eines der Steinfest’schen – im Übrigen immer recht umfangreichen – Romane begonnen.

So erfüllt auch Der Sprung ins Leere – im Schaltjahr 2024 passenderweise natürlich am 29.2. erschienen – alle diesbezüglichen Erwartungen. Diesmal entfalten sich die Ereignisse in der Erzählgegenwart des Jahres 2025 rund um die im Wiener Kunsthistorischen Museum als Aufseherin tätige Klara Ingold, die sich gemeinsam mit dem ehemaligen Schriftsteller und Konditorei-Inhaber Georg Salzer auf die Suche nach ihrer vor 68 Jahren verschwundenen Großmutter Helga Blume macht.

Auslöser dafür ist ein Foto aus dem Jahr 1957, das Klara im Nachlass ihrer Großmutter findet und das – drei Jahre vor der ikonischen Fotografie Sprung in die Leere des französischen Künstlers Yves Klein (1928-1962) – eine vom Balkon springende Frau zeigt. Die spektakuläre und zum Teil lebensgefährliche Suche führt das Duo von Wien aus zunächst ins deutsche Wuppertal über Magome und die Vulkaninsel Aogashima in Japan schließlich auf den österreichischen Semmering, wo es zum dramatischen Showdown kommt.

Steinfest-Aficionados werden in dieser mehr als schematischen Inhaltsangabe bereits mehrere intertextuelle Referenzen entdeckt haben – eine Klara begegnete uns bereits im Chauffeur (2020), der ebenfalls am Semmering kulminiert, und ein die Handlung motivierendes Foto kennen wir aus der Amsterdamer Novelle (2021). Das Kunsthistorische Museum erfüllt hier den locus amoenus der hochalpinen Buchhandlung aus dem Betrunkenen Berg (2022) – dieser wiederum taucht in Sprung ins Leere als Titel eines Bildes des Malers Hashimoto auf – der als Cameo-Auftritt des früher auch als Maler wirkenden Autors Georg Salzer gelesen werden kann.

Die inter- und innertextuellen Anspielungen und Querverweise als eines seiner zentralen Stilmittel erweitert Steinfest im vorliegenden Roman durch die Verwendung von Fußnoten, in denen er sein Vexierspiel mit Realität und Fiktion auf die Spitze treibt und z. B. zukünftige Wikipedia-Einträge erfindet. Dieses klingt in den beiden dem Roman vorangestellten Motti bereits an, deren eines vom Iren Brendan Behan (1923-1964), das andere vom – auch im Roman auftretenden, erfundenen – japanischen Schriftsteller Umeo Susa stammt.

Doch damit nicht genug, stellt Steinfest auch den Akt des Schreibens an sich zur Schau: „Wäre ihr Leben ein Roman gewesen, hätte Klara vielleicht behauptet, dass der Autor oder die Autorin dieses Romans es einfach entschieden hatten.“ (S. 132) Neben dem Maler Hashimoto, der abseits der Werktitelkongruenz auch eine sehr wörtlich zu nehmende Schlüsselrolle für das Romangeschehen einnimmt, ist auch der – fiktive – Filmregisseur Takashi Itō, der mit zahlreichen – real existierenden – Schauspielstars wie George Clooney, Kim Nowak, Philip Seymour Hoffman u. a. zusammen(ge)arbeitet (hat) und Klara für seinen neuen Film als Laiendarstellerin für die Hauptrolle engagieren möchte, als Alter Ego Steinfests zu lesen: Denn auch „Georg würde noch früh genug einsehen müssen, dass, wer einmal in Itōs Überlegungen geriet, schwerlich aus ihnen herauskam.“ (S. 265) – treffender ist Steinfests Schreibweise kaum zu beschreiben. Seine an einigen Stellen sehr ostentativ eingesetzte ‚filmische‘ Erzählweise verleiht dem Roman stellenweise etwas beinahe Drehbuchhaftes: „Und auch hier wieder augenblicklich Georgs Eindruck, von irgendwoher Filmmusik zu vernehmen. Schon wieder ritten Walküren.“ (S. 300)

Die rasante Jagd durch Zeit und Raum, Fiktion und Realität sowie Kunst- und Filmgeschichte vor spektakulärer Kulisse erfüllt die Erwartungen von Steinfests Fans und wird auch alle jene begeistern, die es noch werden wollen. Mit Sprung ins Leere ist dem ‚Alleserzähler‘ Heinrich Steinfest wieder ein ganz großer Coup gelungen!

Veronika Hofeneder ist freie Literaturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Wien. Leitung und Durchführung mehrerer wissenschaftlicher Editionsprojekte zu Gina Kaus und Vicki Baum. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur der 1920er- und 1930er-Jahre, Österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur von Frauen, Literatur und Individualpsychologie, Feuilletonforschung, Editionsphilologie. https://www.germ.univie.ac.at/veronika-hofeneder/

Heinrich Steinfest Sprung ins Leere
Roman.
München: Piper, 2024.
496 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-492-07215-1.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor

Rezension vom 03.06.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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