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Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Julia Jost

// Rezension von Anna-Elisabeth Mayer

Flächendeckend verteilen!

Bereits der Titel des Romandebüts von Julia Jost Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht verweist auf Österreich – und zwar weniger durch die mit Slowenien geteilten Karawanken als mehr durch das vermeintlich Unverrückbare, das sich neben dem Hinaufstrebenden – Göttlichem, natürlich – immer auf das Zubeißen verlassen kann.

Aber bleiben wir vorerst auf dem Boden der Zuschreibungen: Julia Jost wurde 1982 in Kärnten geboren, studierte Philosophie, Bildhauerei sowie Theaterregie und machte als Regisseurin und Dramaturgin bald auf sich aufmerksam – im April 2024 hatte ihr Theaterstück ROM am Wiener Volkstheater Premiere. Letztes Jahr erhielt sie beim Ingeborg-Bachmann-Preis mit einem Textauszug aus dem vorliegenden Roman den KELAG-Preis, nun erschien im Februar das dazugehörige Debüt bei Suhrkamp. Ohne Fernglas ist zu erkennen: steil geht es hier bergauf.

Die verschiedenen Fallhöhen innerhalb der Dorfgemeinschaft hingegen werden in Josts Roman aus der Perspektive eines elfjährigen Kindes beobachtet. Anlass ist der Umzug der Familie 1994 vom Gratschbacher Hof – einem in idyllischer Kärntner Landschaft gelegenem Gasthaus mit Urlaubsunterkünften – nach Klosterberg in die neue Villa, in der nun alles in samtene und seidige Malventöne getaucht ist. Während die Umzugskisten also verladen werden, erinnert sich die Ich-Erzählerin an Ereignisse der dort verbrachten Zeit. Ins Gedächtnis wie geschraubt hat sich der Sturz des Buben Franzi in einen Brunnen. Sein Tod wird im Zuge des Romans immer wieder aufgenommen – Leichenblässe, die heller strahlt als das Dorf, ja, Franzis Verwesungsgeruch ein Parfum gegen den Dorfmist.

So ist etwa die Großmutter der Ich-Erzählerin, die selbst noch in den neunziger Jahren darauf stolz ist, dass in Kärnten neunundneunzig Komma dreiundachtzig Prozent für den Anschluss an Deutschland stimmten, kein Einzelfall. Die Landjungend wiederum verprügelt ihren Bruder, weil er händchenhaltend mit einem Mädchen am Gasthaustisch sitzt: „Ein öffentlich verliebter Mann, ein Schandfleck. Sie haben meinen Bruder, »du dreckige Schwuchtl«, an den Haaren aus der Buschenschank hinausgezogen, haben ihn in den Bauch und Rücken getreten und versehentlich auch einmal ins Gesicht.“ (S. 188)

Dann der Vater Carl, Kfz-Mechaniker und Lastwagenhändler, über den es nach einer historischen Nachrichtensendungen zum Fall der Berliner Mauer 1989 heißt – und woran man Josts genialen Griff zum Dialekt als stilistisches Mittel erkennt – „Am liebsten wäre der Vater noch in derselben Nacht hinausgefahren in die DDR und von dort noch weiter und tiefer hinein in den bröckelnden, wie sie sagten, Kommunismus, um Geschäfte zu machen. Ich konnte es ihm im Gesicht ablesen. Denen konnst jetzt absolut olles verkaufn!, stand da geschrieben, während seine Hände nervös mit dem Autoschlüssel spielten.“ (S. 167)

Die aus der Kinderperspektive umrissene Biografie der Mutter zeigt wiederum den Aufstieg einer Frau, geboren am Bauernhof ihrer Großeltern, der von einer Villa nicht weiter entfernt sein könnte. Noch bevor sie und ihre Geschwister Lesen oder Schreiben konnten, „spannte man sie wie Pferde ins Gasthaus, spannte man sie fest ein.“ (S. 59) Mit siebzehn lernte sie dort den um acht Jahre älteren, bereits verheirateten Mann kennen, den späteren Vater der Ich-Erzählerin. Sie bekam von ihm die Lehrerinnenausbildung in Innsbruck finanziert, sodass sie, „unwiderruflich an [den] Vater verloren“ war (S. 59).

Der Aufstieg der Mutter ist, wie so oft, mit Abhängigkeit verbunden und Erschöpfung, da sie neben Arbeit und Haushalt weiter im nun eigenen Gasthaus hilft. Das Anhäufen von Gütern – eine regelrechte Kaufsucht – scheint ihre einzige Form von Entspannung zu sein. Gleichzeitig ist sie eine resolute Person, die sich als Jägerin auch in der Welt der Männer zu behaupten weiß. Sowohl für die Mutter als auch für den Vater gilt – je mehr der Wohlstand wächst, desto größer der moralische Bankrott.

Mag die Resolutheit der Mutter ein notwendiger Zug gewesen sein, um nach oben zu gelangen, zwingt er die Tochter unter ihr Joch. Ihren Vorstellungen, wie etwas zu sein hat – oder vor allem nicht sein darf, ist nur schwer zu entkommen. So soll ihre Tochter „natürlich“ den anderen Töchtern entsprechen – mit Kleid und langen Haaren, bestimmt aber ohne Bartwuchs. Den kann sich die Elfjährige wiederum gut vorstellen, sodass sie sich regelmäßig nach der Rasur des Vaters selbst die Backen genüsslich einschäumt, was augenblicklich geahndet wird: »Du verziagst sie jo regelrecht zum Buabn, Carli!«, sagte meine Mutter scharf im Vorbeigehen, als wäre ich taub für solcherlei Sätze, wohingegen ich in Wahrheit höchst sensibel dafür und auf das Allerpeinlichste aufmerksam war.“ (S. 79) Neben der Rasur stopft sie sich nämlich auch gerne Sockenknäuel in die Hose; immer in Angst, bloßgestellt und bestraft zu werden.

Ihre einzige Verbündete ist das aus Bosnien geflohene Mädchen Luca, die Kommentare anderer permanent über sich ergehen lassen muss – sei es über ihre Sprache oder ihr Aussehen. Sogar von Seiten der Lehrerin, die doch dem aus Tirol zugezogenen, später verunglückten Franzi immer beigestanden ist. Bald entwickelt sich eine unverbrüchliche Freundschaft zwischen den beiden Kindern, ja, Liebe, die jenseits der starren Welt der Erwachsenen ein Reich entstehen lässt, in dem es nicht nur Grenzen und Ablehnung gibt, sondern Durchlässigkeit und Wärme. Es ist den herausragenden literarischen Fähigkeiten der Autorin zu verdanken, dass neben dem Grausamen und Grellen auch die Zärtlichkeit und Sehnsucht ihre Sprache finden.

Bei den Erwachsenen äußert sich Sehnsucht, wenn überhaupt, im Glauben oder im Alkoholkonsum. Zwischentöne sind ihrem Rededuktus sonst fremd, was von den Jüngsten des Dorfes nahtlos übernommen wird.
Jost gelingt es meisterhaft, österreichische Mentalitätsgeschichte hörbar zu machen. Ein unverstellter Blick in die Stollen menschlicher Bosheit: „Ich erinnere mich dunkel daran, wie meine Großmutter schimpfte, dass sie Lottis Entscheidung, meinen Onkel Helmut zu heiraten, nicht verstehe, »warum wüllst du an Krüppl heiratn?«, denn Helmut ist querschnittsgelähmt. Meinte Tante sagte nur: »Lieber heirate ich einen Krüppel als einen, der mich im Streit irgendwann Krüppel nennt!« Carlotta kam nämlich mit Kinderlähmung auf die Welt und war, weil ein Bein weniger an Länge maß als das andere, seit immer und für immer auf einen Gehstock angewiesen.“ (S. 58)

Josts abgründiger Humor bannt jedoch das Ungeheuerlichste, sodass Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht eine erfrischende Lektüre ist. Gerade weil einem aber bisweilen das Lachen im Hals steckenbleibt, sollte der Roman unbedingt vor dem österreichischen Wahlherbst schnell noch flächendeckend verteilt werden: eine Empfehlung!

 

Anna-Elisabeth Mayer, geb. 1977 in Salzburg, lebt heute als Schriftstellerin in Wien. Studium der Philosophie und Kunstgeschichte. Für ihr Debüt Fliegengewicht (Schöffling Verlag) wurde sie mit dem Literaturpreis Alpha 2011 ausgezeichnet. 2014 folgte der Roman Die Hunde von Montpellier (Schöffling). Im darauffolgenden Jahr erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis. Ebenfalls bei Schöffling veröffentlichte sie 2017 den Roman Am Himmel und im Frühjahr 2023 ihren vierten Roman Kreidezeit, der sich mit der fortschreitenden Digitalisierung auseinandersetzt.

Julia Jost Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
Roman.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2024.
231 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-518-43167-2.

Verlagsseite mit Infos zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe und Videos mit der Autorin

Homepage von Julia Jost

Rezension vom 20.06.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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