„Heute Nacht hatte ich einen Albtraum. Und ich fand ihn großartig.“ (S. 7) So beginnt der Icherzähler seine Tagebucheinträge, in denen er von einem aus dem Ruder laufenden Urlaub berichtet. Zunächst scheint alles recht harmlos: Sechs Erwachsene und fünf Kinder treffen nach und nach in der Herberge, einem leicht abgelegenen Ferienhaus in den Bergen, ein.
Die Bründlmayers sind die Großkotze in der eher losen Schicksalsgemeinschaft, die Riedls die freundlichen Akademiker, die Familie des recht wankelmütig scheinenden Icherzählers wiederum sind – zumindest in seiner eigenen Einschätzung – nette Chaoten. Die drei Ehefrauen kennen sich aus dem schon zwei Jahrzehnte zurückliegenden Studium, haben sich aber danach aus den Augen verloren. Die Truppe eint keine innige, jahrelange Freundschaft, sondern vor allem die Übereinstimmung in ihren eigenwilligen Erziehungsmethoden. Man kennt und toleriert einander. Jakob Pretterhofer bereitet somit schon zu Beginn den Boden für Konflikte eines klaustrophobischen Eskalations-Kammerspiels à la Gott des Gemetzels von Yasmina Reza oder Who’s Afraid of Virginia Woolf? von Edward Albee.
Wer sind hier die Erwachsenen?
Doch wer nun eine klassische Gesellschaftssatire erwartet, wird überrascht sein: Schnell schleichen sich beunruhigende Momente in die Landpartie-Atmosphäre. Von Albträumen, die gar nicht großartig sind, ist die Rede, die Klara, die Tochter des Erzählers, schon seit einiger Zeit quälen und ihre Eltern nicht nur in Angst und Schrecken versetzen, sondern gar ihr Lebensglück bedrohen: „Wenn es nicht diese Albträume gäbe, könnten wir endlich unbeschwert unser Leben führen und glücklich sein.“ (S. 74).
Ein Phänomen, das auch die Riedls und Bründlmayers von ihren Kindern kennen und fürchten. Den Nachwuchs vor Nachtalb und wiederkehrenden Träumen nicht schützen zu können, lässt die unter ständigem Performance-Druck stehenden Eltern glauben, sie seien macht- und hilflos. Im Kampf für eine Nacht ohne Störungen greifen die Erwachsenen zu zweifelhaften Mitteln: Die Kinder müssen Katastrophenübungen über sich ergehen lassen, Yoga und Entspannungseinheiten sollen beim Sich-Erden helfen, vor dem Schlafengehen müssen aufwändige Rituale streng eingehalten werden. Und auch wenn alle fünf schon im Volksschulalter sind, ist das Babyfon zur Überwachung der kindlichen Aktivitäten nie weit.
In diesem Szenario erweisen sich bald die Erziehungsberechtigten als die wirklichen Kinder: Sobald der Nachwuchs schläft oder spielt, wird gestritten, geflirtet, gemobbt und sich – wie zu Teenagerzeiten – betrunken. Da hat der Erzähler ein Auge auf Christine Riedl geworfen, endet aber knutschend mit Eva Bründlmayer im dunklen Garten; da kabbeln sich Ehepaare und finden sich immer neue kurzfristige Allianzen, besonders nach der ersten Nacht, in der der schüchterne Riedl-Sohn Konstantin albtraumgeplagt die erhoffte Ruhe empfindlich stört und sich die Machtverhältnisse in der Zwangsgemeinschaft erst unmerklich, aber doch stetig verschieben. Während die Erwachsenen mit ihren Sorgen, ihren Versagensängsten und Unzufriedenheiten beschäftigt sind, merkt keine:r von ihnen, dass nicht nur sie die Kinder beobachten, sondern umgekehrt auch sie unter Beobachtung stehen – und dabei nicht gut abschneiden. Die fünf Kinder entdecken nicht nur, dass sie alle von ähnlichen Dingen träumen, sondern beschließen auch, dass sie sich mit den zwanghaften Ritualen ihrer Eltern nicht mehr abfinden wollen.
Zwischen Angst und Distanz
Dass sich der Nachwuchs von den überprotektiven Eltern emanzipiert, löst bei denen vor allem eines aus: Angst. Und tatsächlich schleichen sich Momente ein, die schnell an Horrorfilme denken lassen: Beim Geschirrabspülen glaubt der Erzähler, bei einem Gespräch der Kinder seinen Namen zu hören, woraufhin sich alle zu ihm umdrehen; bei anderer Gelegenheit gehen die Kinder plötzlich alle rückwärts oder sitzen zusammengekauert auf dem Balkon, weigern sich aber, Fragen der Eltern zu beantworten, stattdessen fallen kryptische Sätze, wie zum Beispiel, dass die „erste Attacke“ bevorstünde. Die Kinder proben jedenfalls den Aufstand: Sie weigern sich, getrennt zu schlafen, klauen die Autoschlüssel, als die Erwachsenen den Urlaub abbrechen wollen, und verschwinden eines Morgens spurlos. Sie sind sich gegenseitig mehr Schutz, als die Erwachsenen ihnen geben können.
Damit umzugehen weiß keine:r der Mütter und Väter, im Gegenteil: Pretterhofer lässt seinen Erzähler sich zunehmend in Panik, Wut und Sorge verstricken, was ihn nicht nur handlungsunfähig macht und sein Urteilsvermögen zu trüben scheint, sondern ihn sogar temporär die Flucht ergreifen lässt. Und peu à peu kommt man als Leser:in auch seinem dunklen Geheimnis auf die Spur. „Speziell Klara hatte sich von mir distanziert. Kein Wunder, nach allem, was passiert war“ (S. 10), erfahren wir von ihm zu Beginn des Romans. Dass er kein schlechter Vater sei, beteuert er mehr sich selbst als allen anderen gegenüber, doch immer wieder blitzen in Affekthandlungen seine Unbeherrschtheit, Wehleidigkeit und Selbstgerechtigkeit durch. Was ist also wirklich vorgefallen zwischen ihm und seiner kleinen Tochter? Was lässt sie so sehr Distanz zu ihm halten, ihm so misstrauen? Dass es mit ihren Albträumen zu tut hat, lässt sich erahnen – die Auflösung ist so erschreckend wie überraschend.
Ein nie endendes Taumeln
Bis zum dramatischen Showdown zwischen Kindern und Eltern hält Jakob Pretterhofer souverän die Fäden in der Hand und die Spannung auf hohem Niveau und lässt alles auf ein unvermeidbares Ende zulaufen. Mit leichter Hand schmiedet der versierte Drehbuchschreiber Versatzstücke aus Horrorfilmen, Gesellschaftssatiren und Psychothriller zu einer rasanten Erzählung, die den Leser:innen den Boden unter den Füßen nicht nur einmal wegzieht.
Klug beobachtet Pretterhofer seine eigene Generation der leicht haltlosen und zutiefst verunsicherten Vierzigjährigen, ihren Habitus, ihre Ängste – und ihren Selbstbetrug. Als cleverer Kunstgriff erweist sich dabei die Ichperspektive, aus der heraus der Erzähler den Urlaub Revue passieren lässt. Zwar möchte man dem eher fragwürdigen Papa gerne glauben, wie sehr er sich aufopfern will für die Familie, doch schleichen sich Misstöne ein, die seine Glaubwürdigkeit untergraben. Für wen will er eigentlich das Beste? Für seine Kinder? Oder doch eher für sich?
Es ist vergnüglich, entlarvend und beklemmend zugleich, wie Jakob Pretterhofer seine Figuren durch eine Welt taumeln lässt, die sie bei weitem nicht so gut verstehen und unter Kontrolle haben, wie sie glauben. Meisterhaft versteht er es, Schicht um Schicht von den sowieso nicht in Stein gemeißelten Glaubenssätzen der Bobo-Ausflügler abzutragen und ihre Unfähigkeit, auf Unerwartetes zu reagieren, bloßzulegen. Und mit einer Schlusspointe, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, wartet Die erste Attacke auch noch auf: Der Albtraum sind nicht die anderen, das wahre Grauen wohnt meist in den eigenen vier Wänden. Und spätestens jetzt wäre ein bisschen Angst doch angebracht.
Stefanie Jaksch war einige Jahre als PR-Verantwortliche und Dramaturgin an deutschen Theatern tätig, seit 2011 lebt und liest sie in Wien, wo sie bis 2023 die Verlags- und Programmleitung für Kremayr & Scheriau innehatte. Die von ihr konzipierte Essay-Reihe übermorgen wurde u. a. mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch ausgezeichnet. Seit 2024 ist die Wortarbeiterin als freischaffende Moderatorin, Kuratorin und Lektorin unterwegs und hat das Büro für Kultur- und Literaturarbeit „In Worten“ gegründet. Im Herbst 2024 erscheint bei Haymon ihr Essay Über das Helle – sich selbst versteht sie als (ver-)zweifelnde Anfängerin in immerwährender Transformation.