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Ernst Jandl (1925-2000)

Hans Haider

// Rezension von Alexander Kluy

Ein Mann von runder Anmutung mit rundem kahlem Kopf. Der, in Anzug und Krawatte, saß er auf einem Podium und schlug eines seiner Bücher auf, aus dem vorzulesen er begann, urplötzlich etwas anderes wurde. Ein Ereignis. Ein poetischer Urknall. Eine akustische Wort-Explosion.

Ernst Jandl, geboren am 1. August 1925, Lehrer für Deutsch und Englisch, über Arthur Schnitzlers Novellenkunst promoviert und lange am Gymnasium an der Waltergasse, Wien IV, tätig, führte als Autor eine andere Tradition weiter. Die der traditionsbrechenden Avantgarde: die Lautpoesie eines August Stramm, die radikale Syntaxzerlegung Gertrude Steins, die visuelle Poesie der Dadaisten.

Dabei sind Jandls Gedichte richtiggehend populär geworden. Wer kennt nicht Ottos Mops kotzt? Oder das so lautmalerisch grimmige schtzngrmm? Und wer verweist nicht gerne darauf, lechts und rinks seien nicht zu verwechsern – werch ein illtum!
Laut und Luise, 1966 im Walter Verlag in Olten in der Schweiz erschienen, führte damals umgehend zur Entlassung des Verlagsleiters Otto F. Walter durch die konservativen Eigentümer. Ein Glück für Jandl, folgte er doch Walter nach Deutschland zum Luchterhand Verlag. Heute ist Laut und Luise einer der bekanntesten Lyrikbände der letzten 60 Jahre und sogar als wohlfeiles Reclam-Büchlein erhältlich.

Ebenso wie die Autoren der Wiener Gruppe, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm (die darin übereinstimmten, dass es im Grunde keine „Gruppe“ war noch gab), auf andere Art Hans Lebert, Elfriede Gerstl oder Reinhard Priessnitz sorgte Jandl für einen Aufbruch in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Sie bezogen sich auf 1938 abgetrennte Strömungen. Sie sorgten für frische Luft. Für subversive Spiele, die die Dynamik, die Klang- und reinen/unreinen Sinnmöglichkeiten der Worte ernst nahmen. Ernst Jandl brachte, meinte etwa der deutsche Avantgarde-Lyriker Helmut Heißenbüttel, die Sprache zum Sprechen, auch und erst recht in theatralischen Sprech-Opern wie die humanisten und Aus der Fremde. Und mit täglich abgehakten Arbeitslisten. Später folgten auf diese schillernden Sprechzerlegungen grammatikalisch konventionellere, melancholische bis renitent depressive Lebens-, Ich- und Zustandsreflexionen.

Nach jahrelangen krankheitsbedingten Absenzen ließ sich Jandl 1979 in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. Schon zwei Jahre später gab es das erste wissenschaftliche Symposium über sein Werk. Zwanzig Jahre lang, bis starke gesundheitliche Einschränkungen dies unterbanden, engagierte er sich in der 1973 von ihm mitgegründeten Grazer Autorinnen Autorenversammlung. Fast 46 Jahre währte die Schreib- und Lebensgemeinschaft mit Friederike Mayröcker, die, als sich die beiden kennen und lieben lernten, ebenfalls noch Lehrerin war. Jahrzehnte lang führten sie gemeinsam, aber räumlich getrennt in eigenen Wohnungen im selben Haus eine fruchtbare, inspirierende, dabei stilistisch wie arbeitsorganisatorisch gegensätzliche Beziehung.

Auf Letzte Worte, seinen letzten Gedichtband, freute sich Ernst Jandl besonders, war doch eine Erscheinungsweise als Taschenbuch geplant. Das Erscheinen im Frühjahr 2001 erlebte er aber nicht mehr mit – der Titel war somit worterfüllend –, er starb am 9. Juni 2000 in Wien. „und was wirst du dann sagen?“ heißt es im Titelgedicht, „lebt wohl ihr weiterlebenden … / das heißt, wenn jemand bei mir ist / werde ich das vielleicht sagen.“
Wer wird was vielleicht sagen, im Sommer 2025? Wie nur werden die Feierlichkeiten am 1. August 2025 aussehen, wenn an diesem Tag exakt ein Jahrhundert Ernst Jandl zu feiern sein wird?

Hans Haider legt nun eine mit Fein- und sublimen Feinstinformationen gespickte, äußerst detaillierte Biographie des Dichters vor, der in Wien zur Welt kam, Landstraßer Gürtel Ecke Jacquingasse (bis heute findet sich keine Plakette an der Hausfassade, immerhin gibt es auf der Wieden einen Taschenpark, der seinen Namen trägt, und in Kagran eine Gasse), der aber seinen literarischen Durchbruch in – Deutschland hatte. Seit 1968 erscheint sein Werk bei Luchterhand, das ihm über mehrere Eigentümerwechsel hinweg bis heute die Treue gehalten hat und insgesamt drei Werkausgaben herausbrachte, die jüngste kommt auf sechs Einzelbände und 3.712 Druckseiten.

Der Journalist und Theaterkritiker Hans Haider, viele Jahre für Die Presse und die Wiener Zeitung tätig, hat für seine konkrete Biographie jahrelang recherchiert, gesammelt, Informationen zusammengeführt. Was bedeutet in diesem Kontext das Adjektiv „konkret“? Es signalisiert eines: eine stupend fundierte Faktengebundenheit. Haider entschlägt sich weitestgehend Werkinterpretationen, er liefert das „konkrete“ Lebens-Fundament: Begegnungen, Freund- wie Feindschaften, Lehrtätigkeit, Städte, Verlage, Preise.
Haider zeichnet ausgreifend wie tiefgehend, manchmal sich hie und da ein klein wenig zu weit weg abtreiben lassend, Familie, Familienverhältnisse, Kindheit, Jugend, Kriegsdienst, Studentenliebe, erste Ehe, Scheidung, Familienbeziehungen nach, die ersten literarischen Gehversuche, die dann immer größer und elementarer und literarhistorisch wichtiger wurden. Besonders erhellend wie spannend zu lesen: die Beziehungen zu Verlagen und zu Verlegern; und zwar hier auch jene Friederike Mayröckers. So wird von Haider nachgezeichnet, wie es kam, dass sie 1970 den Verlag wechselte, keine Autorin mehr bei Luchterhand war, sondern zu Suhrkamp wechselte. Wobei diese Aktion in An- und Abführungszeichen zu setzen war. Luchterhands damals neu inthronisierter Verlagsleiter strich nämlich seinerzeit alle jene Autorinnen und Autoren aus dem Programm, mit denen er glaubte, nichts verdienen zu können. Und darunter war auch Mayröcker, welche das Glück hatte, dass eine Luchterhand-Lektorin den Weg zu Suhrkamp nach Frankfurt/Main nahm.

Das liest sich alles angenehm, stützt sich auf instruktive Vorarbeiten und liefert eine dermaßen opulente Fülle an bisher wenig bis gar nicht bekannten Fakten und Details, seien es Abkunft, des Dichters Alltag, Idiosynkrasien, Malaisen, Depressionen, dass es teilweise staunen macht – für einen Dichter der Spätmoderne findet sich da vielleicht nur in David Bellos‘ exzellenter Biografie des französischen Avantgardisten Georges Perec (deutsche, eng gesetzte Ausgabe: 704 Seiten, englische Ausgabe: 832 Seiten) ein Pendant. Eine solche Biografie mit diesen mäandernden Verzweigungen und Kontakten und Begegnungen und Kollaborationen – von Max Bense über Allen Ginsberg und den schottischen Landschaftskünstler und Bildhauer Ian Hamilton Finlay bis zu den Germanisten Walter Höllerer und Hans Mayer oder Rundfunkredakteuren – wünschte man sich auch über andere der österreichischen Literatur nach 1945, über Hilde Spiel oder Konrad Bayer, Albert Drach oder Ilse Aichinger.

 

Alexander Kluy ist Autor, Kritiker, Herausgeber, Literaturvermittler. Zahllose Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Editionen, zuletzt Felix Dörmann – Jazz (edition atelier, 2023) und Egon Erwin Kisch – In Hollywood wächst kein Gras (Limbus Verlag, 2023). Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt in der edition Atelier die Bände Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte (2023) und Giraffen. Eine Kulturgeschichte (2022) sowie im Corso Verlag Vom Klang der Donau (2022).

Hans Haider Ernst Jandl (1925-2000)
Eine konkrete Biographie.
Stuttgart: J. B. Metzler, 2023.
592 S.; geb.; mit 10 Abb.
ISBN 978-3-662-66638-8.

Homepage von Hans Haider

Rezension vom 03.07.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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