#Sachbuch

Die Sprachkunst Gerhard Rühms

Thomas Eder, Paul Pechmann (Hg.)

// Rezension von Mario Huber

„Es ist gar nicht so leicht zu beschreiben, was das heißt: ein Wort verstehen“ (80), stellt Herausgeber Thomas Eder in seinem Betrag „Wie Gerhard Rühms rhythmus r seine Wunder vollbringt“ beiläufig fest. Dass sich diese erkenntnistheoretische Grundproblematik bei einem Autor wie Gerhard Rühm (*1930), dessen künstlerisches Werk von Medienwechseln und grenzgängen geprägt ist, in gewisser Weise ins Unendliche und sogar ins textall potenzieren lässt, zeigt der interessante Sammelband Die Sprachkunst Gerhard Rühms, der in der Edition Text + Kritik erschienen ist. Endlich, muss man sagen, denn wie in der Einleitung zum Band erwähnt wird, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Rühm noch recht überschaubar. Was wundert, denn Rühms Arbeiten als Autor, Musiker und Konzeptkünstler, seien sie „solo“ oder als Teil der Wiener Gruppe entstanden, gelten als bedeutende, frühe Versuche, im Nachkriegsösterreich wieder an die avantgardistischen Traditionen des 20. Jahrhunderts anzuknüpfen und werden mittlerweile generationen- und spartenübergreifend rezipiert.

Die erwähnten Beschreibungsschwierigkeiten ergeben sich in Eders Fall bei seiner Analyse von Rühms multisensorischem Werk rhythmus r (1968), zu dessen Besonderheiten u.a. ein eingebundenes Schmirgelpapier und eine herauszureißende Seite gehören. Mit kognitionswissenschaftlichen Einschlag geht Eder den möglichen Assoziationen der Lesenden nach, mehr oder weniger bei seinen eigenen beginnend, wobei er sein Augenmerk auf synästhetische Phänomene legt.

Eders Text gibt insofern (gewollt oder nicht) Einblick in die Vorstellungswelt des Verfassers – also nicht Rühms, sondern Eders. Dieses offenlegen des Erlebens ist auf jeden Fall interessant und findet sich auch bei weiteren Autor:innen im Band. Paul Pechmann, die zweite Hälfte des Herausgeberduos, begibt sich nämlich auf ähnliche Pfade und fasst im Resümee für seine Auseinandersetzung mit Rühms reisefieber. theatralische ereignisse in fünf teilen (1989) die möglichen Erlebnisse von Lesenden bei der Lektüre des Texts folgendermaßen zusammen:

„Nach der Lektüre, nach dem Erlebnis der Aufführung sind für uns die Wörter andere geworden, sie gewinnen Bedeutung weniger aus der Konvention denn aus ihrer unmittelbaren Präsenz, aus den mit ihnen vollzogenen Handlungen und ihren sinnlichen Umgebungen. Unser Verhältnis zur Sprache ist ein anderes, unser Verstehen von deren Funktionsweisen ein reiches und tieferes […]. Und schließlich richtet sich unsere Aufmerksamkeit verstärkt auf die Aktualisierung verschiedener mit den Wörtern assoziierter nonverbaler, bildlicher und anderer sinnlicher Vorstellungen und Imaginationen.“ (172)

Rühms Sprachkunst, glücklicher Weise müssen wir nicht (nur) von Literatur sprechen, fordert also heraus – und scheint dabei Forschende mitunter an methodische Grenzen stoßen zu lassen bzw. disziplinäre Gepflogenheiten wie z. B. die strikte Trennung von Autor und Werk oder die oftmals eingeforderte Distanz zum Untersuchungsgegenstand zu verunmöglichen. Stattdessen wird das Erleben bei der Rezeption zentral. Anders formuliert: Anscheinend führt die analytische Herangehensweise von Rühm zu mannigfaltigen Synthesen bei den Lesenden, die die Leerstellen im eigenen Verarbeiten für die Weitergabe in eine erzählbare Form bringen müssen, was wiederum dem Rezeptionsprozess eine privilegierte Position einräumt.

Rühms damit zusammenhängendes, vorausgehendes Grenzgängertum zwischen Genres und Formen wird bei Monika Schmitz-Emans Text über Rühms „Buchschauspiele“ evident. Hier wird das Buch, als Material und Materielles, zum Schauplatz. Tanz, Theatertext, Künstlerbuch, Buchtheater, Comic… alles fließt ineinander. Jede Beschreibung, die streng an Genre- oder Disziplingrenzen entlang wandert, wird sich unweigerlich verirren. So bleibt auch am Ende von Roman Grabners Text zu Rühms Visueller Kunst als Fazit mehr eine Frage als eine entscheidende Aussage stehen: Wann wird eine Zeichnung zur visuellen Poesie, wann ist sie (noch) ein Bild? Rühms Werk scheint ständig am Grat zu wandern; wobei es auch hier auf die Blickrichtung ankommt.

Auf der Metaebene der institutionellen Diskussion von künstlerischem Schaffen ist es also, frei nach Thomas Eder, „gar nicht so leicht“, Rühm nahezukommen. Zwischen handfester Hermeneutik – was könnte der Autor gemeint haben? – und frei fließender Literaturtheorieversatzstückmaschine – was zeigt der Text mir in diesem Moment vor meinem kulturellen/institutionellen/disziplinären Hintergrund? – geht Rühms Spiel mit den scheinbar einfachsten Elementen der Sprache und ihrer konventionalisierten Darstellung gerade so richtig auf.

Zwei große Verdienste des 16 Beiträge umfassenden Bandes, aus dem an dieser Stelle ohne Wertung nur ein paar herausgegriffen werden, und damit seiner Herausgeber sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Einerseits, dass unterschiedliche Disziplinen und Auseinandersetzungen zu Wort kommen: Von den Archivwissenschaften über eher theoriegeleitete, akademische Positionen bis hin zu Stimmen von Wegbegleitern bzw. Kolleg:innen und schließlich Essayistisches aus Richtung der Literaturkritik reichen die Annährungen an Rühms Sprachkunst. Andererseits (und gleichzeitig damit zusammenhängend) ist es sehr gewinnbringend, dass sich mehrere Autor:innen aus diversen Richtungen den gleichen Werken nähern und so oftmals mehrere Deutungen – z.B. vom erwähnten rhythmus r – nebeneinanderstehen. Was „gar nicht so leicht“ ist, wird einem damit nicht noch schwerer gemacht.

Gelegentlich werden die unterschiedlichen Ansätze gegeneinander abgewogen. Hans-Edwin Friedrich legt z.B. in seinem Text zu textall: ein utopischer roman (1993) nahe, dass es, im Widerstreit zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik, eher die erstere ist, die Rühm (wenn überhaupt) verstehen mag. Aber, und diese Frage darf man sich dabei stellen: Für wen schreibt denn dann Rühm eigentlich? Hilft an dieser Stelle vielleicht tatsächlich nur noch eine fundierte Erforschung des Autors und seiner Beweggründe, die sich jenseits einer frei fabulierenden Literaturkritik (und einer sich vielleicht ebenso gerierenden Literaturwissenschaft) abspielt? Was, zwischen mir und dem Anderen, zwischen dem Objekt klein r und dem großen Rühm, bleibt?

Eine Antwort bietet sich dafür natürlich an, trivial und nur scheinbar redundant: Rühm schreibt für die, die ihn lesen. Und man sollte ihn lesen, weil es essenziell um die Erfahrung des Lesens/beim Lesen geht. Rühms Texte sind Gebrauchstexte in diesem besonderem Sinn.

Weitaus besser und fundierter als es der Verfasser dieser Rezension vermag, formuliert diesen Gedanken im Sammelband Florian Neuner. Neuner arbeitet in seinem Text zu Rühms historischer Einordung zwischen unterschiedlichen Kunsttheorieansätzen rund um Konzept-, Avantgarde- oder Experimentalkunst heraus, was schließlich das Alleinstellungsmerkmal des Autors sein könnte. Unter dem Strich bliebe bei Rühm auf der Habenseite, so Neuner, dass sich seine intermedialen Werke durch die Konzepte dahinter in keinem Fall selbst abschaffen würden. Selbst dieses „dahinter“ scheint unangebracht, denn die Texte und ihre begleitenden konzeptionellen Erörterungen gehen ineinander auf und über, sodass beide insgesamt und irreduzibel das Werk in Rühms „konsequent autoreflexiver Kunst“ (188) ergeben. In diesem Sinn sei Rühm den letzten Schritt in Richtung konzeptioneller Kunst (vor allem US-amerikanischer Prägung) nicht gegangen.

Rühm sollte man also lesen, denn das Konzept erschöpft sich nicht im Konzept und im Andeuten seiner Umsetzung, sondern die Umsetzung bietet Mehrwert. Was passiert denn nun aber beim Lesen – oder anders, weitreichender gefragt: Welche Rolle spielt das „Jetzt“ bei Rühm, zu dessen bekanntesten Arbeiten schließlich eine Collage aus dem Jahr 1958 gehört, die diesen Titel trägt? Bernhard Fetz‘ Text über die Bedeutung des „jetzt“ in Rühms Werk ist in diesem Sinn ein großartiger Einstieg in den sehr vielfältigen Band. Fetz macht an dieser Stelle die vielen Dimensionen des „jetzt“ fassbar, und stellt sich damit einer Frage, die Jörg Drews bereits im Jahr 2000 mit Blick auf Rühms die frösche (1958) gestellt hat:

„[W]enn es in einem Text ‚jetzt‘ heißt, dann ist das wann: innerhalb der Fiktion, oder bei der Niederschrift oder beim Lesen des Textes, bei dem das behauptete ‚jetzt‘ des Textes überhaupt erst zum realen ‚jetzt‘ wird?“ (Drews, 2000: 232)

Und Fetz antwortet, mit selbigem Text Rühms im Hintergrund:

„‚Jetzt‘, das meint keine platte Poetik der Unmittelbarkeit, die Gegenwart nur behauptet und eben nicht Gegenwärtigkeit im Prozess der Rezeption provoziert, mit sehr vielen künstlerischen Mitteln; also nicht: Gegenwart als Thema […], sondern: ‚jetzt‘ als Ergebnis einer künstlerischen Intervention, die an Sprache ansetzt, wobei Sprache als Kommunikationsmittel, als System von Lauten, Wörtern und größeren syntaktischen Strukturen verstanden wird; außerdem als Speicher von historischen Sprachschichten und vor allem als unendlich bearbeitbarer Speicher für Zukünftiges.“ (25)

So einfach mit dem „einfach Rühm lesen“ scheint es nicht zu sein – oder doch? Ein Relektüre nach dem Input der Beiträger:innen bietet sich an.

Ebenfalls einem werkübergreifenden Thema widmete sich Friedrich W. Block. In seinem Beitrag stelle er sich der quasi allgegenwärtigen komischen Seite von Rühm Schaffen. Block bezieht sich in seinen Ausführungen auf den deutschen Urvater des Komischen, Jean Paul, um die Konvergenz von Rühms Kunst(können) und der Komik herzustellen. Dem ins Abstrakteste der deutschen Philosophie abdriftenden Text steht in gewisser Weise jener von Peter Rosei im Band zur Seite, der sich zwar einem Text mit fast ephemerem Inhalt und transzendentalen Implikationen widmet – Rühms „Staub-Lamento“ –, jedoch in der Beschreibung und Auswertung auf dem Boden der Tatsachen bleibt: Rühms Texten, denen ein „pädagogischer Eros“ innewohne, fehle zwar die Empathie, aber: „Was er [d.i. Rühm] will, ist einsichtsvolles Begreifen, gewürzt durch Humor“ (215) Vielleicht wäre es interessant, hier mit Henri Bergson weiterzudenken: Dessen Vorstellung einer für die Wirkung des Humors notwendigen „Anästhesie des Herzens“ scheint da nicht mehr weit zu sein.

Kurt Neumanns den Band abschließende Aufzeichnung der Diskussion zu „Politik und die Literatur Gerhard Rühms“ transkribiert schließlich ein Schöpfen am bodenlosen Fass. Das vielstimmige Denken und Arbeiten an Begriffen, das bei der dem Band vorausgegangen Tagung in Mürzzuschlag im Jahr 2019 passiert ist, zeigt ein Ringen, um Rühms Schaffen gerecht zu werden. Auch an dieser Stelle sei an etwas erinnert, was Jörg Drews bereits festgehalten hat und was als Einleitung zu Neumanns Text gut herhalten hätte können:

„Stoffe, gesellschaftliche Probleme, ,Anliegen‘, politische Themen etc. waren ihm [d.i. Rühm] – obwohl er durchaus auch bestimmte weltanschauliche oder politische Vorlieben und Neigungen hat – kein primärer Schreibantrieb, eher umgekehrt: Formal-sprachliche Aspekte der Literatur interessieren ihn grundsätzlich mehr, dies allerdings mit der Begründung bzw. Unterscheidung, der eigentliche ,Formalismus‘ sei die Benutzung vergleichsweise beliebiger Sprache, Formen, Stile für wechselnde Inhalte, denn damit werde die literarische Form zu einem Gefäß erniedrigt, in das man alles gießen könne.“ (Drews 2000: 222f.)

Das Buch schließt mit einem Querschnitt durch Rühms dichterischen Schaffen – eine kleine, aber in der Gesamtkomposition des Sammelbandes eigentlich unerlässliche Coda. Oder sollte man die Gedichte als kommentierenden Kontrapunkt lesen? Die Sprache versagt nun auch hier, zwischen den semantischen Feldern… Wie auch immer: Schließlich kommt man dann eben doch noch dazu, Rühm zu lesen. Vielleicht sogar, um eine verständliche Beschreibung seiner Wörter zu versuchen

Thomas Eder, Paul Pechmann (Hg.) Die Sprachkunst Gerhard Rühms
Sachbuch.
München: edition text + kritik ,2023.
290 S.; brosch.
ISBN 978-3-96707-492-5.

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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