#Sachbuch

Ein Gegenkanon

Anton Thuswaldner (Hg.)

// Rezension von Alexander Kluy

Goethe. Kafka. Thomas Mann. Büchner. Brecht. Dazu Schiller, Kleist und Lessing. Überschaubar originell fielen im Sommer 1997 die Antworten und Namensreihungen aus. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ hatte nach einem deutschen Literaturkanon gefragt. Welche literarischen Werke der deutschsprachigen Literatur müsse eine Maturantenklasse lesen, und welcher Titel gehöre vielleicht nicht zu einem „Mindestkanon“, solle aber wünschenswerterweise gelesen werden. So die vorgegebenen Fragen, gerichtet an, wie die Wochenzeitung extra zu betonen meinte, „namhafte Autoren und Zeitgenossen“. Die einem bieder-konventionellen Schullesebuch, scheint’s, entsprungenen Antworten wurden nach Sammlung und Zusammenführung im Anschluss von drei, so der neumodische Terminus technicus, „Literaturexperten“ beurteilt. Zu dieser Trias zählte auch der Wiener Literaturprofessor Wendelin Schmidt-Dengler. Dessen Verdikt war einerseits ambig bis opak, andererseits von scharf umrissener Ratlosigkeit zeugend. „So ist auch dieser Kanon“, schrieb der Doderer- und SK Rapid-Kenner, „zutiefst fragwürdig, wie jeder Kanon. Aber man kommt um die Kanondebatte nicht herum, so man noch daran glaubt, dass Literatur an der Schule vermittelt werden soll.“

 

Eine Kanon-Debatte zielt ins Herz der Bildungspolitik, jeder Bildungspolitik. Und einer Bildungssendungspolitik. Nur vier Jahre nach dieser nicht wirklich befriedigenden Debatte um kanonische Literatur präsentierte Marcel Reich-Ranicki, damals der bekannteste Literaturkritiker in deutschsprachigen Landen, seinerseits einen Kanon, der dann auch, nach Genres aufgeteilt, als mehrbändige Anthologien in Kassettenausgaben gedruckt vorgelegt wurde. Kein halbes Jahr später akklamierte das Magazin „profil“ unter der Überschrift „Alles, was man lesen muss“ seinerseits einen Kanon der „50 wichtigsten Bücher aller Zeiten“. Diese Liste entschlug sich Literaturkritik und Literaturwissenschaft, beruhte vielmehr zur Gänze auf Publikumszuschriften. Stolz wurde es als „Kanon von unten“ porträtiert. Ein anderes kulturelles Gedächtnis somit, keine, wie das ein Germanist literatursoziologisch bezeichnete, Macht- und Distinktionsverfahren, keine Elitebildungen oder Identitätskonstruktionen, keine autorisierte Akkumulation kulturellen Kapitals oder sozialer Distinktion.

Auf dem Gebiet akademisch betriebener Leseforschung wird die Kanon-Heerschar stetig erweitert. Da gibt es den Idealen Kanon (offiziell, explizit) und den Realen (inoffiziell, wild), den Kernkanon (sich über lange Zeiträume und ganze Epochen erstreckend) und den Akuten Kanon (das Hier und Jetzt von Neuerscheinungen), den Gruppenkanon und jenen von Institutionen, ausdifferenziert nach sozialer Schichtung und Gruppierung, nach Altersgruppe und Generation. Selbstredend gibt es auch die Unterart der Revision, eine stete, subversive wie politisch sensitive Erweiterung, und die De-Kanonisierung, die Kritik nämlich an einer solchen Aufstellung als Abstrusität per se.

Nun hat der Salzburger Kulturredakteur, gefragte Juror und Laudator und Literaturfestveranstalter Anton Thuswaldner siebzehn Autorinnen, Kritikerinnen und Poeten, Literaturvermittler, Essayisten, Übersetzer, Germanistinnen und Verleger nach Gegenkanonischem gefragt. Darunter den noch jungen Berliner Sebastian Guggolz, Gründer des gleichnamigen, sich auf eher bis gänzlich unbekannte Titel aus Mittel- und Osteuropa konzentrierenden Kleinverlags, und den 80-jährigen bekannten Michael Krüger, seit mehr als einem halben Jahrhundert ein enorm gut vernetzter und höchst erfolgreicher Lektor und Leiter des Carl Hanser Verlags zu München. Zudem Gabriele Kögl und Sabine Scholl, Karin Peschka und Konstanze Fliedl. Ebenfalls Vladimir Vertlib, Ernest Wichner und Franzobel, Franz Schuh und Ferdinand Schmatz. Oswald Egger entzog sich dezent wie subtil der Thuswaldnerschen Frage nach subjektiv kanonischer Leseempfehlung oder Aufmerksamkeitsentzug. Diese Aufgabe, so der am Niederrhein lebende Dichter aus Südtirol, sei ihm „schlicht zu groß“, über Kolleginnen und Kollegen schreibe er „leider nicht gern, auch wenn sie schon gestorben sind (über lang und kurz), obschon Lob die einzige Rede ist, die lohnt.“ Eigentlich hätte sein entschuldigender Rückzieher im Buch neben den ironisch durchfärbten Aufsatz Brigitte Schwens-Harrants über Jane Austen gerückt werden müssen. Stärker ist da schon das kleine, wenn auch sprachlich nicht ganz runde Hans Henny Jahnn-Porträt von Sebastian Guggolz, in dem er den Monumentalromancier als meistempfohlenen Außenseiter der Literatur vor Augen rückt und über autobiografische Selbstfindung nachdenkt.

Andere widmen sich der Aufgabenstellung mit Gegenüberstellungen. Jürgen Egyptien, der sich um Hans Lebert verdient gemacht hat, kontrastiert die „Pannonische Novelle“ Johannes Weidenheims, die 1991 im Otto Müller Verlag erschien, mit einer Schlachtung, der von Thomas Bernhards „Heldenplatz“. Die Kritikerin Katrin Hillgruber macht nämliches, aber viel höflicher, mit dem recht abwegigen Paar Mela Hartwig und Wilhelm Raabe, Franzobel kombiniert den hierzulande erfolgreichen Amerikaner T. C. Boyle mit dem hierzulande (trotz dreier Übersetzungen) unbekannten Spanier Ramiro Pinilla, Cornelius Hell schreibt über Robert Schindel und Icchokas Meras (Litauen/Israel) und deren Shoah-Bücher. Franz Schuh bricht, eloquent wie stets, eine Lanze für Walter E. Richartz und dessen „Büroroman“, der wie zwei andere Werke noch heute, 42 Jahre nach Richartz‘ Tod, im Schweizer Diogenes Verlag lieferbar ist. Ferdinand Schmatz räsoniert über die Bedeutung von Reinhard Priessnitz für ihn wie für die (Dicht-)Welt. Der aus Rumänien stammende Lyriker und langjährige Leiter des Berliner Literaturhauses Ernest Wichner plädiert für Alexandru Vonas Roman „Die vermauerten Fenster“, einen surrealistisch-existenzialistischen Solitär der rumänischen Literatur. Vladimir Vertlib hat eine Hommage an Zehra Çirak verfasst, der 1960 in Istanbul geborenen, seit 1963 in Westdeutschland lebenden, seit 1982 in Berlin ansässigen Lyrikerin, deren Poeme und Prosa seit 20 Jahren in einem Kleinstverlag erscheinen. Illja Trojanow, der Jahre lang eine Reihe extra-europäischer Literatur herausgab, widmet sich dem Kubaner José Lezama Lima, verweigert ihm dabei aber sacht unhöflich den Vornamen, und dem Ghanaer Kojo Laing, zu dessen neu aufgelegter Eindeutschung von „Search Sweet Country“ (1986; „Die Sonnensucher“) Trojanow 2015 ganz zufällig ein Nachwort beisteuerte.

Sabine Scholl steuert einen „Aufruf“ bei, sich der Literatur von Frauen zu widmen, vergessener Autorinnen wie Maria Lazar, Friederike Manner oder Gabriele Tergit, und in diesem Zuge auch strukturelle Ungleichheiten der Kritik, der Rezeptionsbedingungen und -vorbedingungen zu identifizieren, zu neutralisieren und zu beseitigen. Raphaela Edelbauer schreibt zwar über einen lebenden Autor, Klaus Hoffer, der heuer 80 Jahre alt wird. Der Grazer hat allerdings sein erzählerisches Werk eigenwilliger Weise schon vor 40 Jahren abgeschlossen. Gabriele Kögl steuert ein starkes Veto pro Ursula Wiegele aus Kärnten („Arigato“, 2020) bei und ein ebenso entschiedenes Kontra in Sachen Robert Seethaler.

Eingestreut ist ein halbes Alphabet, reichend von A bis K, aus der Feder des Lyrikers, Lektors, Zeitschrifteneditors („Akzente“) und Verlegers i. R. Michael Krüger, der eine Liste von Dichterinnen und Dichtern durchwertet: Anna Maria Achenrainer aus Tirol, überschätzt. Peter Paul Althaus, unterschätzt. Erich Arendt – unterschätzt. Dito Hans Arp, H. C. Artmann, Cyrus Atabay oder Rose Ausländer. Hugo Ball: überschätzt als Dichter, unterschätzt als Diagnostiker. Rudolf G. Binding – wenig geschätzt, Gerald Bisinger dafür sehr. Ernst Blass: außerordentlich geschätzt. Johannes Bobrowski gar: geliebt. Gleiches gilt für Nicolas Born und den Schweizer Rainer Brambach wie für den so ganz anderen Rolf Dieter Brinkmann. Es finden sich nicht wenige Namen hier, die kanonische/anti-kanonische Entdeckungsverführungen sind, das radikal sparsame Verdikt durch Lektüre zu festigen oder zu widerlegen. Da liest man Namen wie jenen von Rolf Bossert, der 1986 mit 34 Jahren tot aufgefunden wurde, Krüger erwähnt Georg Britting oder Theodor Däubler („Nordlicht aufgegeben“), den kaum gelesenen Günter Eich, den vergessenen Gerrit Engelke, Günter Bruno Fuchs („Immer geliebt“) und Ludwig Greve („Verehrt“), Helmut Heißenbüttel („Ach. Muss ich wieder lesen.“) oder Peter Hille („wunderbar“), Erich Kästner („Alte Liebe“), Werner Kraft („Manchmal sehr verehrt“) und am Ende koketterweise einen gewissen Michael Krüger mit dem Vermerk: „Muss ich wieder lesen“.

Karin Peschka findet in einer autobiografischen Lektüre- und Lesebildungsminiatur vielleicht die prägnanteste Formel in einer der wenigen, wirklich theoretischen Ausführungen des gesamten Buchs. Der Kanon, schreibt sie da in einer Betrachtung über einen Roman ihres einstigen Lehrers Hermann Obermüller, „ist eine sich wiederholende Vielstimmigkeit.“ Und der Gegenkanon? „Ein Gegenkanon setzt sich per definitionem derselben Gefahr aus. Was bleibt, ist die Öffnung der Bücherregale und die Einladung in diesen zu stöbern.“

Eine solche Einladung ist dieser anregende, bewusst sich abgeschlossener Stringenz entschlagende, anmutig subjektive, polyphon komponierte Band.

Anton Thuswaldner (Hg.) Ein Gegenkanon
Bücher, die auf der Strecke bleiben, und solche, die auf der Strecke bleiben sollten.
Salzburg: Müry Salzmann, 2022.
176 S.; geb.
ISBN 978-3-99014-228-8.

Rezension vom 15.09.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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