Mitte der zwanziger Jahre war der 1894 in Graz geborene und 1944 im Londoner Exil verstorbene Carl Mayer der erfolgreichste Filmautor in Deutschland, der für seine Drehbücher – die bekanntesten sind wohl jene zum Stummfilm Das Cabinet des Doktor Caligari (1919) und Der letzte Mann (1924) – Spitzengagen erhielt.
Wenn auch nicht alle Drehbücher Mayers in der oben zitierten gedichtähnlichen Form verfaßt wurden, so gilt der Filmschaffende vielen doch eigentlich als Schriftsteller und Impulsgeber im Umfeld des Expressionismus, als Drehbuchautor, der seine Geschichten weniger als Text, sondern in (Film-)Bildern erzählte. Mayer war an der filmischen Umsetzung seiner Drehbücher intensiv beteiligt, auf Ankündigungen der Filme stand nicht selten: „Von Carl Mayer“; sein Einfluß reicht bis nach Hollywood.
Der von Bernhard Frankfurter herausgegebene Band versteht sich als Hommage an den außerhalb der Filmwelt zumeist vergessenen Künstler und versucht mit zehn Beiträgen und einem umfangreichen Anhang eine Positionsbestimmung Mayers, der sich selbst öffentlich nie reflektierend zu seiner Arbeit geäußert hat.
Den Band durchzieht die Expressionismusdebatte, ausgehend von dessen Bedeutung für die deutsch(sprachig)e Geschichte, wird das Werk Carl Mayers darüber hinausgehend ins Umfeld der Romane von Joseph Roth oder Robert Musil gestellt -als Versuch, die Zeit der Jahrhundertwende, „den Makro- und Mikrokosmos dieser Tragödien aufzuhellen, auszuleuchten“. (Frankfurter, S. 19) „In der Welt seiner filmischen Dramen entschlüsselt Carl Mayer Hierarchie, Autorität, Untertanentum, Verbrechen, Herrschsucht, scheinheilige Moral und Unterdrückung. Ein Spezialist im Dechiffrieren der neuen Heilsversprechen …“ (Frankfurter, S. 13)
Den Einstieg bietet Jerzy Toeplitz mit seinem Beitrag über die Anfänge und Wurzeln des Expressionismus im Film, gefolgt von Armin A. Wallas Aufsatz über die Aktualität des Expressionismus. Wallas betont die Bedeutung des neuen Mediums Kino als paradigmatischen Ausdruck expressionistischer Ästhetik und ist bemüht, die Linien der Verfemung und des Unbehagens mit dem Begriff Expressionismus, die bis in die heutige Zeit reichen, nachzuziehen. Inwieweit Carl Mayer nun tatsächlich als Expressionist bezeichnet werden kann, untersucht Jürgen Kasten, Jörg Becker setzt sich mit dem Begriff des „Caligarismus“ als Synonym für die Stummfilme der Weimarer Zeit auseinander, Helmut Weihsmann geht der Frage nach, wie sehr Mayers Drehbücher stilbildend für den gesamten deutschen expressionistischen Film waren – sei es der „caligarische“ oder der „psychologische Kammerspielfilm“.
In einem sehr persönlich gehaltenen Beitrag untersucht Sabine Scholl die Sprache des Drehbuchs, liest Mayer als Verfasser von Sprachexperimenten, findet einen Dichter, „wo keiner zu vermuten war“ (S. 87) und dennoch zugleich auch die Unterschiede zur Literatur. Beiträge von Leonardo Quaresima, Carsten Schneider und Jürgen Kasten über das Drehbuch und die Rezeptionsgeschichte des Caligari, Mayers filmisches Spätwerk und Fragen nach dem Drehbuchautor als filmhistorisches Problem beschließen den Hauptteil des Bandes.
Von den Drehbuchauszügen im Anhang würde man sich nach der Lektüre des – wenn auch uneinheitliche Aspekte aufgreifenden – Bandes jedoch mehr wünschen, um, neugierig geworden, nicht nur „Einsicht zu nehmen in wesentliche Geschichtsbereiche dieses Jahrhunderts“ (Frankfurter, S. 19), nun auch den Drehbuchautor / Schriftsteller Mayer im Original besser kennenzulernen. Dafür muß man jedoch auch weiterhin auf die wenigen älteren und verstreuten Publikationen zurückgreifen.