Entgegen der Ankündigung im Untertitel konzentriert sich die vorliegende ‚Inventur‘ der Gegenwartsliteratur zuerst – „chronologisch im groben gegenläufig und wie auch gegen die gewohnte Werteskala“ (S.12) auf Gattungen, Schreibweisen und Themen. In stringenten Beiträgen zu Phantastik und Fantasy, dem Soziokrimi, filmischem, jounalistischem und autobiographischem Schreiben, Städteliteratur, zur RAF sowie zu Homosexualität und Mythos in der Literatur wird eine ’neue‘ Literaturgeneration seziert: diese könne für sich die „Gnade der späten Geburt“ beanspruchen, gleichzeitig müsse sie aber in einer Zeit literarisch Fuß fassen, wo sich herkömmliche Genres auflösen und tradierte Schreibtechniken korrodieren (S. 11).
Im ersten Beitrag bietet Hans Richard Brittnacher kundig, informativ, voll überraschender Details und Verknüpfungen einen Rundgang durch die Welt der Phantastik von Peter Handkes Horrorgeschichten hin zu H.C. Artmanns Frankenstein und Dracula-Texten, Irmtraud Morgners Trobadoren-Zyklus und natürlich zu Michael Ende. Das abschließende Plädoyer für die literaturwissenschaftliche Bearbeitung von Fantasy zielt auf ihre längst obsolete Abwertung durch das Etikett Unterhaltungsliteratur. Das Problem der mangelnden wissenschaftlichen Akzeptanz klingt ebenfalls an im lesenswerten Beitrag über den Soziokrimi von Reinhard Jahn (unter Pseudonym selbst Krimiautor). Mit dem Unterschied allerdings, daß der Autor den Kriminalroman mittlerweile im breiten öffentlichen Bewußtsein verankert sieht.
Wie kein anderer Beitrag ermöglicht der Ausflug des Berliner Professors und Mitherausgebers Erhard Schütz zu den Randbereichen der Literatur, dem literarischen Journalismus, das herkömmliche Verständnis von Autor und Literatur im Elfenbeinturm in Frage zu stellen. Der Titel „Fliegen des Geistes“ ist eine Referenz an Joseph Roth, dessen Grenzüberschreitungen als Autor-Journalist für Schütz Voraussetzung und Stimulus in der Neudefinition von Literatur-Reportage-Feuilleton
Um geänderte Produktionsbedingungen geht es in Markus R. Webers anregendem Beitrag zum ‚filmischen‘ Schreiben. Unter dem Titel „Prosa, der schnellste Film“ verfolgt Weber die Korrelationen von filmischen Techniken/Wahrnehmungen und literarischen Schreibweisen bis in die neunziger Jahre anhand von Peter Handke, Brigitte Kronauer bis Paul Nizon und Gundi Feyrer.
Die folgenden autorenzentrierten Beiträge stellen,- vielleicht etwas wider den tendenzaufspürenden Anspruch der Herausgeber -, acht ‚Solitäre‘ der deutschen Gegenwartsliteratur in den Mittelpunkt: Marie-Thérèse Kerschbaumer, Elfriede Jelinek, Christa Wolf, Botho Strauß, Thomas Bernhard, Hans Magnus Enzensberger und Rolf Dieter Brinkmann.
Der Grazer Germanist Kurt Bartsch baut seine Analyse der Kerschbaumerschen Prosa Der weibliche Name des Widerstands. Sieben Berichte (1990) aus zu einer Nahaufnahme der Literarisierung von Verschweigen, Vergessen und Verdrängen nationalsozialistischer Vergangenheit in der österreichischen Gegenwartsiteratur. Kein neues Thema zwar, doch als ’nationaler Diskurs‘ im Kontext des Gesamtbandes ein wichtiger Teil.
Im Gegenzug wird Elfriede Jelineks Prosa der siebziger Jahre von Werner Jung strikt abseits ihrer Einbettung in die spezifische österreichsche Literaturentwicklung auf ihre Stellung innerhalb des Neuen Subjektivismus befragt. Jung analysiert Jelineks „soziologische Romane“ (nach einer These von Rudolf Burger ) dahingegehend, ihre Prosa als „Versuchsanordnungen, Modellkonstruktionen“ erkenntlich zu machen, die Literatur als Gesellschaft-, Ideologie- und Diskurskritik (S. 266) letztlich auszeichnet.
Thomas Bernhard als dritter österreichischer ‚Solitär‘ der literarischen ‚Kristallwelt‘ wird unter der These, seine Literatur habe „wenig – um nicht zu sagen, gar nichts – mit dem zeittypischen Phänomen der Neuen Subjektivität in den Siebzigern zu tun“ (S. 300f.) als Beispiel des ‚biographischen Autors‘ unter Legitimationsdruck interpretiert. Frauke Meyer-Gosau verfolgt anschließend Christa Wolfs ‚argen Weg‘ zur gesamtdeutschen Autorin (so der Titel), der von der diffenziert zu sehenden DDR-Staatsdichterin bis zur Mahnerin und ‚priesterlichen Instanz‘ leitet. Die Interpretation der Wolfschen moralischen Position innerhalb der DDR-Gesellschaft sowie ihres Utopieentwurfs erfolgt entsprechend der Aburteilung durch das deutsche Feuilleton nach 1990.
Meyer-Gosau versucht Christa Wolf allerdings gerecht zu werden, indem sie deren Generationsanspruch hinzuzieht, der geprägt ist von einem steten „Bedüfnis nach Selbst-Rettung, Erklärung und Sinn“ als Folge der De-Individualisierung in der Vergangenheit (S.281f.) Hier hätte eine Einbeziehung der West-Literatur wohl jene Verankerung gebracht, die z.B. den Aufsatz von Matthias Uecker über Hans Magnus Enzensberger auszeichnet.
Insgesamt ein mit großem Gewinn zu lesender Aufsatzband durch seine Konzentration auf Themen (zu erwähnen ist hier noch die ausgezeichnete Zusammenschau von Walter Delabar über die RAF in der deutschen Literatur) und Tendenzen, die im Kanon von Literaturgeschichten gern übersehen werden. Was fehlt: ein Register und ein gebündeltes Literaturverzeichnis, oder hätte dies den Rahmen eines Aufsatzbandes überschritten?