#Sachbuch

Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv

Michael Töteberg, Alexandra Vasa (Hg.)

// Rezension von Stefan Maurer

„Alles ist Archiv. Alles ist im Begriff, Archiv zu werden und in Rauch aufzugehen“, so hat der Schriftsteller Thomas Kling den Totalitätsanspruch dieser Gedächtnisinstitution ironisiert. Das Archiv und seine Grenzen, aber auch Permeabilitäten kommt in dem von Michael Töteberg und Alexandra Vasa herausgegebenen Band Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv in verschiedenen Konstellationen und Konturen zum Vorschein.

In seinem Pendeln zwischen sakrosanktem Aufbewahrungsanspruch, bedroht und den zerstörerischen Mechanismen der Außenwelt ausgesetzt, hat das Archiv seit den theoretischen Reglementierungen der französischen Philosophen Michel Foucault und Jacques Derrida in den Geisteswissenschaften Hochkonjunktur. Die verstaubten Archivregale und die darin aufbewahrten Archivschachteln öffnen sich jedoch immer nachhaltiger der interessierten Öffentlichkeit – dies ist den lesenswerten und informativen Beiträgen des Bandes sowohl direkt als auch indirekt zu entnehmen.

War das Archiv einmal ein Ort des Geheimwissens, so ist die Bemühung, Bestände zu sammeln, zu erforschen und zu präsentieren vor allem in der Literaturwissenschaft, rangierend von der Historisch-Kritischen Ausgabe bis zu im Internet verfügbaren und der Allgemeinheit zugänglichen Forschungsplattformen, ein wesentlicher Punkt der Öffentlichkeitsarbeit und der Daseinsberechtigung des modernen (Literatur-)Archivs geworden. Der vorliegende Band bietet nicht nur einen detaillierten Einblick in die Typologie verschiedener Autor*innen-Nachlässe, sondern auch ganz allgemein in die Archivpraxis und die Einbettung von Archiven in die (literaturwissenschaftliche) Forschungslandschaft sowie die archivische Verknüpfungsleistung, die mit den Digital Humanities nicht mehr aus diesem Kontext wegzudenken oder auch nur vernachlässigbar sind.

Der Band ist ein best of, eine Leistungsschau des inhärenten Potenzials der Literaturarchive in Verbindung mit exzellenter Forschung und führt von den Beständen der Akademie der Künste (AdK) bis nach Rostock und natürlich in das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) und wieder retour nach Berlin. Leider sind die österreichischen Institutionen ausgespart, was natürlich bedauerlich, aber bei der von den HerausgeberInnen vorgenommenen Zusammenstellung und ob der hohen Dichte an Literaturarchiven in der Bundesrepublik wiederum verständlich ist. Vielleicht lässt sich dieses Versäumnis in einem zukünftigen Sonderband nachholen.

Verschiedenste Institutionen stellen sich vor, die großen, kanonisierten Namen geben den Takt vor: das Theodor W. Adorno-Archiv, das Archiv der Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld (gleichzeitig archivgewordenes Wohnhaus des Ehepaares Alice und Arno Schmidt), das an der Universität Rostock angesiedelte Uwe Johnson-Archiv sowie das „Archiv für unpublizierte Autobiographien“ des „Rostock-Sammlers“ Walter Kempowski (Stephen Lesker). Ebenso stehen der literarische Nachlass (Sabine Wolf) von Christa Wolf an der AdK sowie ihre Autorinnenbibliothek (Birgit Dahlke) an der Humboldt-Universität Berlin im Zentrum jeweils eines Beitrags. In den Blick gerät auch eine wichtige Formation der Literaturgeschichtsschreibung sowie des Literaturbetriebs, nämlich die Verlagsarchive, wie jenes des Henschelverlags (Franziska Galek) der ehemaligen DDR. Neue Forschungsansätze müssen angesichts des gigantischen Bestandes des Suhrkamp-Archivs („Siegfried-Unseld-Archiv“) und des Rowohlt-Archivs (Christoph Hilse) entwickelt werden. Die vom DLA verwahrten Dokumente werden in Forschungsprojekten aufgearbeitet und zeigen einmal mehr die transnationalen Konnexionen eines internationalen Literaturbetriebs auf.

Im einleitenden, überblicksartigen Beitrag „Ein Gang durchs Archiv“ reflektiert Töteberg die heute diskursbestimmende Funktion des Archivs als auf Nachruhm gerichtete Institution durchaus kritisch und konstatiert diesbezüglich, dass die „(Selbst)Einlieferung des Vorlasses“ (5) als eine Bewerbung auf einen Fixplatz im Kanon hindeutet. Möglich, aber das Archiv kann ebenso ein „Friedhof der Namenlosen“ (Gerhard Fuchs) bleiben, je nach (über-)regionaler oder gar internationaler Bedeutung der Vorlasser*innen, und somit das „Verwahrensvergessen“ (Aleida Assmann) beschleunigen. Dass aus der Institution Archiv (oder der inhärenten Archivpolitik) heraus immer wieder Anpassungen, Neuverhandlungen und Approximationen des Kanons bzw. Urteile in Revision gehen, wer oder was eigentlich „archivwürdig“ ist, verweist, so Töteberg, auch auf eine lange „Kette von Traditionen und Traditionsbrüchen“ (6). Dies wird z. B. anhand des Nachlasses des Pop-Musikers Rio Reiser deutlich, der, dies noch vor einigen Jahren undenkbar, mittlerweile auch als „würdig“ eingestuft, im DLA verwahrt und katalogisiert wird.

Die gut lesbaren Beiträge bieten konzise Einblicke in die Archivlandschaft und mit ihr verbundener Disziplinen, wobei der Aufsatz von Katrin von Boltenstern die Problematik der Arbeit mit literarischen Nachlässen thematisiert und eine Ethik des Umgangs dieser Hinterlassenschaften unter der Perspektive der „[n]achlasspolitische[n] Vorsorgepraktiken“ (24) entwirft. Durchaus kritisches wird hier zum sogenannten „Nachlass-Bewusstsein“ zeitgenössischer Autor*innen geäußert. Michael Schwarz liefert in „Adorno und die Archivierung des Ephemeren“ eine Typologie des Gelehrten-Nachlasses, eine kurzweilige Studie über die Verschränkung von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Hinsichtlich des Nachlasses von Arno Schmidt, dessen durchmischte Objektlage, angefangen bei dessen Wohnhaus in Bargfeld bis hin zu Mobiliar und Schriftgut, die Forschung vor das Problem stellt, was eigentlich „nichtiges Zeug“ ist, verhandelt Susanne Fischer die zentrale Frage, ob nach dem Tod von Autor*innen alles potenziell Archivgut ist oder nicht. Thomas Ehrsam liefert in „Vom Suchen und vom Finden“ einen Erfahrungsbericht in Archiven, zeichnet eine Typologie der Erfassung des literarische Nachlasses und zeigt, welche zufälligen Funde sich auch hinsichtlich Beständen ergeben können, deren Erschließungsgrad besonders hoch ist.

Zum Uwe Johnson-Archiv und der editorischen Praxis der im Entstehen begriffenen „Rostocker Ausgabe“ seiner Werke haben Holger Helbig, Katja Leuchtenberger und Antje Pautzke einen Beitrag verfasst, der die Schnittstellen und Konturen zwischen den komplexen Austauschprozessen, wie auch der (digitalen) Verwahrungsstrategie und den Leistungen der Editorik nachzeichnet. Stefan Lesker beschreibt Walter Kempowskis Habitus gegenüber dem eigenen „Archiv für unpublizierte Autobiographien“ und der damit einhergehenden Untrennbarkeit zwischen publiziertem Werk und Archivalie. Denn Kempowski trat der „Nutzlosigkeit seiner Archive“ (81) entgegen, indem er die dort erhaltenen Geschichten mittels seines umfangreichen Œuvres der Öffentlichkeit zugänglich machte. Michael Töteberg zeichnet in „Die Erfindung der Nachkriegsliteratur“ unter Rückgriff auf die Verlagsinterna des Rowohlt-Verlagsarchivs eine unbekannte Größe nach: die Arbeit der dortigen Lektoren, die als „Deutungsgemeinschaft“ (139) wesentlichen Einfluss auf das Verlagsprogramm nahmen. Verdienstvoll ist die von Töteberg zusammengestellte, den Band beschließende, synoptische Auswahlbibliografie, die sich als Einführung in die Archiv-Thematik und -Problematik eignet und viele wichtige Hinweise zur allgemeinen Archivtheorie sowie zu Nachlassbewusstsein, Autor*innenbibliotheken und Verlagsarchiven bietet.

Michael Töteberg, Alexandra Vasa (Hg.) Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv
Zeitschrift für Literatur.
München: edition text + kritik 2021 (= text + kritik; Sonderband. 11/20).
194 S.; brosch.
ISBN: 978-3-9670-7429-1.

Rezension vom 19.08.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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