Allerdings wird dieser Anspruch nicht konsequent durchgehalten, wodurch Redundanzen und Fehlstellen vorprogrammiert sind. So gibt es zur Prosa der BRD die Kapitel „Die Bundesrepublik im Roman nach 1945“, „Romane und Erzählungen der fünfziger und sechziger Jahre“ sowie „der siebziger bis neunziger Jahre“. Auch der DDR sind zwei diesbezügliche Kapitel gewidmet, dem Abschnitt „Romane und Erzählungen der Schweiz“ steht allerdings kein entsprechender Österreich-Beitrag gegenüber. Das
Prosaland Österreich findet sich wieder einmal unter BRD subsumiert, mit der Folge, daß wichtige österreichische Nachkriegsromane bzw. Autoren völlig unberücksichtigt bleiben, wie etwa Moos auf den Steinen von Gerhard Fritsch oder Hans Lebert, dessen Romanen nur im Kapitel „Neue Heimatliteratur“ ein kleiner Absatz gewidmet ist. Diese beiden Autoren
sind im übrigen mit drei Nennungen im gesamten Band ebenso häufig erwähnt wie etwa Helene Weigel, Wim Wenders, T. S. Eliot oder Jürgen Flimm.
Die strukturelle Problematik mag nun zu einem Teil der offenbar schwierigen und über lange Jahre sich hinziehenden Entstehungsgeschichte dieses letzten Bandes der renommierten Sozialgeschichte geschuldet sein. Erklärende und erläuternde Hinweise des Herausgebers wären hier sicherlich erhellend und leserfreundlich gewesen. Da Horst Glaser in seiner zweiseitigen Einleitung aber betont, daß nationale und regionale Differenzen „anders als in den vorangegangenen Bänden […] deutlich
hervorgehoben“ werden sollten, auch auf Wunsch „vieler Mitarbeiter (insbesondere aus Österreich)“ (S. 2), ist eine kritische Sichtung unter diesem Aspekt sicherlich gerechtfertigt.
Bedauerlich auch, daß – mit Ausnahme der deutschen Wiedervereinigung – die Beiträge zu den nationalen Sonderentwicklungen in unterschiedlichen Themenbereichen (z. B. Epochenabriß, Zeitschriften) die letzten beiden Jahrzehnte häufig nur abschließend und sehr kursorisch streifen.
Dazu kommen divergierende Daten und Zitierweisen in den einzelnen Beiträgen; die Ursache dafür mag in unterlassener Kooperation der einzelnen Beitragsverfasser und / oder einem mangelhaften Lektorat liegen. Generell wären konkretere Vorgaben des Herausgebers zu stringenter Themenbearbeitung dem Gesamtprojekt sicherlich förderlich gewesen.
Vier eingestreute Autorenporträts zu Christa Wolf, Thomas Bernhard, Paul Celan und Ernst Meister liefern jeweils eine gediegene Werkschau, innerhalb der Gesamtkonzeption einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur lassen sie jedoch das übergeordnete Gesamtkonzept einer Epochendarstellung vermissen. Auch der Verlag selbst scheint in seinem Pressetext die Auswahl nicht ganz nachvollziehen zu können, denn Ernst Meister bleibt unerwähnt: „Bedeutende Autoren wie Paul Celan, Thomas Bernhard und Christa Wolf werden in eigenen Kapiteln portraitiert.“
Und es schmerzt österreichische Rezensenten, wenn im Kapitel „Konservative Autoren“ Peter Handke als einziger Österreich-Vertreter aufscheint, wenn Theodor Kramer ein Mal erwähnt wird, und das im Kapitel „Neue Dramatiker in Österreich“, wenn der Beitrag über „Experimentelle Literatur“ gänzlich ohne Andreas Okopenko auskommt, wenn Klaus Hoffers Der große Potlatsch als „postexperimentelle“ Variante in einer Auflistung der Väterbücher im Gefolge der 68er firmiert, wenn Erwin
Einzinger zwar in einer Aufzählung erwähnt wird, aber im Text wie im Register zu Enzinger mutiert … und eine Vielzahl österreichischer Autoren offensichtlich nicht zum Kanon der Gegenwartsliteratur gehört.
RezensentINNEN schmerzt auch die Tatsache, daß zwar ein Kapitel „Körper und Literatur“ Aufnahme fand, das sich mit Homosexualität in literarischen Texten befaßt, ein Kapitel zur Literatur von Frauen aber gerade in einer Sozialgeschichte fehlt.
Generell läßt sich ein Gefälle in der Informationsdichte von 1945 bis in die neunziger Jahre festmachen, dessen Ursprung verständlich ist (geringe historische Distanz, Unsicherheit in der Kanonbildung; vgl. dazu auch den abschließenden Beitrag zu „Epoche in der Literaturgeschichtsschreibung“
Fazit einer genauen und sehr kritischen Lektüre: Wertvolle Orientierung bietet der Band durch die quantitative Fülle der akkumulierten Informationen und das breitgefächerte Spektrum der Literaturbetrachtung. Ein Standardwerk zur neuen deutschen Literatur wird es damit allein aber nicht werden.