#Sachbuch

Der Fall Moosbrugger

Robert Musil

// Rezension von Harald Gschwandtner

Die Idee, den monumentalen Mann ohne Eigenschaften (1930/1932/postum) auf eine bekömmliche Länge zu kürzen, ist in der Musil-Community nicht eben gut beleumundet. Aber es gab immer wieder Bemühungen, Musils Fragment gebliebenes Opus magnum auf diese Weise einem größeren Publikum schmackhaft zu machen.

Denn seit jeher gilt es als eines jener Bücher, das oft genannt, aber selten (vollständig) gelesen wird: In der „Bibliothek der ungelesenen Bücher“ des österreichischen Künstlers Julius Deutschbauer – wie Musil in Klagenfurt geboren – rangiert der Mann ohne Eigenschaften auf dem ersten Platz, noch vor dem Ulysses, der Bibel und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Was also tun, um das Buch einer neuen Generation von Leserinnen und Lesern zu erschließen? Während der Salzburger Jung und Jung Verlag seit 2016 eine zwölfbändige Ausgabe von Musils Werk herausgibt, in der allein sechs voluminöse Bände für den Mann ohne Eigenschaften reserviert sind, versucht es Steidl aus Göttingen ganz anders: In der neuen Reihe „Steidl Nocturnes“ hat der Verlag, verantwortet von Andreas Nohl, kürzlich Der Fall Moosbrugger vorgelegt, ein schmales Bändchen, das sich ganz auf den Handlungsstrang um den Frauenmörder Christian Moosbrugger konzentriert. Ob das gut geht?

Beginnen wir mit einem Blick zurück in die Geschichte der MoE-Kürzungen. Nachdem in den 1950er Jahren Adolf Frisé eine erste dreibändige Musil-Werkausgabe publiziert hatte, versuchte sich 1962 Hans Heinz Hahnl mit Utopie Kakanien an einem repräsentativen „Querschnitt“ durch das Romanuniversum des Mann ohne Eigenschaften. In der Reihe „Das österreichische Wort“ im Grazer Stiasny-Verlag gedruckt, ist der Band längst nur noch antiquarisch zu haben; das Projekt des langjährigen Kulturredakteurs der Wiener Arbeiter-Zeitung erschien in einer einzigen Auflage. Hahnls Auswahl enthält fünf vollständige Kapitel aus dem Roman, weitere Kapitel wurden in gekürzter Fassung abgedruckt, in anderen Fällen Abschnitte aus mehreren Kapiteln des Mann ohne Eigenschaften unter einem neuen Titel zusammengefasst. Genauere Angaben zur Textkonstitution fehlen, jedoch hat Hahnl seine Auswahl in einer kurzen Notiz begründet und dabei eingestanden, dass „Kenner“ des Romans wohl „vieles vermissen“ würden.

Adolf Frisé, der den Mann ohne Eigenschaften in den 1970er Jahren im Zuge einer neuen Werkausgabe edierte, konnte der „Spekulation, daß sich vielleicht, um den ‚Mann ohne Eigenschaften‘ müheloser konsumierbar zu machen, eine […] Selektion empfehle“, wenig abgewinnen. Der Begriff der ‚Konsumierbarkeit‘ verweist indes auf eine Debatte, die kurz zuvor, angeregt von Marcel Reich-Ranicki, anlässlich von Musils 100. Geburtstag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stattgefunden hatte.

Folgt man seiner 1999 publizierten Autobiographie, war der junge Reich-Ranicki ein begeisterter Musil-Leser, „düstere Schülerromane“ wie der Törleß zählten, so ist dem Band Mein Leben zu entnehmen, zu seiner „Lieblingslektüre“. Jedoch scheint die Liebe relativ rasch abgekühlt zu sein, wiederholt stichelte Reich-Ranicki gegen den „Erfolglose[n] und Verbitterte[n]“, der nie bereit gewesen sei, „seinen Kollegen […] den Erfolg zu verzeihen“. 1980 unternahm Reich-Ranicki einen neuen Anlauf zu einer gekürzten Fassung des Mann ohne Eigenschaften, jedoch unter deutlich polemischeren Vorzeichen als die einstige, zu diesem Zeitpunkt längst in Vergessenheit geratene Initiative von Hahnl. Der Kritiker, seit 1973 mächtiger Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, formulierte in einer Glosse vom 6. November 1980 (dem 100. Geburtstag des Schriftstellers) die Idee, ein Best-of des allzu umfangreichen Romans herzustellen. Über weite Strecken ist Reich-Ranickis Glosse allerdings keine Auseinandersetzung mit dem Autor Musil oder mit dessen literarischem Werk, sondern eine Abrechnung mit den Editionsprinzipien der Germanistik, die Musils Roman „gleichsam mit Stacheldraht“ eingehegt hätten.

Reich-Ranickis Charakterisierung des Romans, die er seiner Philippika gegen die Editionsphilologen folgen ließ, dürfte die Leserinnen und Leser freilich kaum zur Lektüre des Mann ohne Eigenschaften angeregt haben: Der Text gleiche „einer Wüste mit vielen herrlichen Oasen. Die Wanderung von einer Oase zur nächsten ist bisweilen qualvoll. Wer nicht Masochist ist (oder Germanist), der kapituliert.“ Es sei jedoch „durchaus möglich, Musils Hauptwerk aus seiner Verbannung in die Oberseminare zu erlösen. Nur müßte man den Mut haben – denn hierzu ist offenbar Mut nötig –, die schönen Episoden, Szenen und Skizzen auszuwählen und in einem Band von, sagen wir, vierhundert bis höchstens sechshundert Seiten zusammenzustellen.“ Während er dem Mann ohne Eigenschaften in seiner Gesamtheit wenig abgewinnen konnte, war Reich-Ranicki überzeugt, dass eine (wohl von ihm selbst besorgte) Selektion den Platz des Romans unter den „Meisterwerken“ des 20. Jahrhunderts sichern werde. Die Diskussion, die in der Folge im Feuilleton und auf den Leserbriefseiten der FAZ geführt wurde, ist aufschlussreich für das Verhältnis von Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Später sollte Reich-Ranicki behaupten, der Rowohlt-Verlag und die akademische Musil-Forschung hätten die Umsetzung seiner Idee verhindert.

Thomas Kraft veröffentlichte 2000 in der Piper-Reihe „Meisterwerke kurz und bündig“ einen Band zum Mann ohne Eigenschaften. Gleich zu Beginn hebt er bedauernd hervor, dass Musil mit seinem Roman einen im Grunde „ungelesene[n] Klassiker“ geschrieben habe. Es handle sich, so Kraft, um ein „kurioses Phänomen, einzigartig in der deutschen Literaturgeschichte“, denn „abgesehen von einigen ehrgeizigen Philologen und genußsüchtigen Literaturverrückten“ sei „kaum jemand“ bereit, sich durch den Mann ohne Eigenschaften „hindurch[zu]quälen“. Gleichzeitig – und hier handelt es sich um das ‚kuriose Phänomen‘ – sei dessen Renommee im literarischen Feld äußerst hoch; Umfragen nach den bedeutendsten Romanen des 20. Jahrhundert führten ihn noch vor Kafkas Prozess und Thomas Manns Zauberberg auf dem ersten Platz: „Alle schätzen ihn, keiner kennt ihn wirklich.“ Auch wenn Kraft in der Folge nicht eine kondensierte Fassung des Musil-Textes vorlegt, sondern eine kursorische Nacherzählung der zentralen Handlungsstränge nebst einigen Bemerkungen zur Poetik des Romans liefert, ist seine Agenda doch mit jener Reich-Ranickis vergleichbar: Weil die Lektüre des Mann ohne Eigenschaften, so Krafts nicht eben begeisterte Einschätzung, „enorm mühsam und zeitraubend“ sei, müsse für weniger geneigte Leserinnen und Leser Abhilfe geschaffen werden.

Das aktuelle Vorhaben des Steidl-Verlags indes erweist sich als deutlich musilfreundlicher. Der Fall Moosbrugger lädt tatsächlich dazu ein, den Autor wieder oder neu zu entdecken: Auch hier wird eingangs darauf verwiesen, dass die „essayistische Struktur und der mäandernde Erzählverlauf“ des Mann ohne Eigenschaften „viele Leser vor Schwierigkeiten“ gestellt habe, „so dass sie nach hundert oder zweihundert Seiten häufig die Waffen streckten“. Der Herausgeber hat deshalb den „vielleicht handlungsstärkste[n], gewiss de[n] seelisch abgründigste[n] Motivstrang“ aus den weit über 100 Kapiteln des Mann ohne Eigenschaften herauspräpariert und ihm lediglich „ein paar kurze Hinweise zu den beteiligten bzw. erwähnten Figuren des Romans“ vorangestellt. Beigegeben sind den etwa 80 Seiten Musil-Text ein Beitrag von Karl Kraus aus dem Jahr 1911, der den Prozess gegen Christian Voigt – das biographische Vorbild für Musils Moosbrugger-Figur – kommentiert, sowie ein Essay des Musil-Biographen Karl Corino, der die historischen Bedingungen von Text und Kontext kundig erläutert.

Der Fall Moosbrugger versammelt insgesamt neun Kapitel aus Musils Roman, die sich mehrheitlich dem Schicksal des Frauenmörders widmen: seiner tragischen Vorgeschichte als vagabundierender Handwerker, einem Leben voll passiver wie aktiver Gewalterfahrung, dem brutalen Mord an einer Prostituierten, aber auch dem Gerichtsprozess, den Musil als exemplarisches Medienereignis der Moderne inszeniert: „Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere, und das Belanglose im Wirklichen.“ Das besondere Interesse des Erzählers gilt dem Wahrnehmungsmodus Moosbruggers, wobei psychopathologisches Wissen und literarische Ästhetik miteinander verflochten sind, etwa wenn im Kapitel „Moosbrugger denkt nach“ plötzlich die Worte „in den Nähten nachgeben“. Die dem Frauenmörder gewidmeten Kapitel changieren – wie der Roman als Ganzes – zwischen den Genres, sind sprachphilosophische Miniaturen, sozialgeschichtliche Essayfragmente und stilistisch elegant erzählte Episoden aus dem Leben Moosbruggers zugleich.

Geballt, ohne die weiteren Handlungsstränge des Romans in einem schmalen Band gedruckt, entfalten sie eine besondere Wucht. Zugleich geht mit der Auswahl aber eine zentrale Qualität von Musils Erzählen verloren, wird Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften doch gerade im Vergleich mit den anderen Figuren des Romans, durch Nähe zur und Ferne von der bürgerlichen Gesellschaft, charakterisiert. Die Übergänge zwischen den Kapiteln sind durch das Herauslösen der Moosbrugger-Teile mitunter abrupt und verweisen nur zu deutlich auf das, was fehlt.

Den Mann ohne Eigenschaften zu kürzen, ist eine editorische Gratwanderung. Der Steidl-Verlag hat mit diesem von Rahel Bünter schön gestalteten und ausgestatteten Buch (Textileinwand, Lesebändchen, farbiges Vorsatzpapier!) einiges richtig gemacht.

Robert Musil Der Fall Moosbrugger
Auszüge aus Der Mann ohne Eigenschaften.
Mit einem Nachtwort von Karl Corino.
Göttingen: Steidl, 2020 (= Steidl Nocturnes).
128 S.; geb.
ISBN 978-3-95829-780-7.

Rezension vom 13.01.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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