#Sachbuch

Architektur aus Sprache

Roland Innerhofer

// Rezension von Veronika Schuchter

Wer kennt das nicht: Ein Autor beschreibt detailliert ein Gebäude, die Lage, die Fassade, Gänge und Räume, Türen und Fenster – und am Ende hat man trotzdem keine Ahnung, wie das beschriebene Haus denn nun eigentlich aussieht. Eine andere hingegen vermag mit wenigen sprachlichen Strichen ein Anwesen zu entwerfen, das so echt vor dem inneren Auge erscheint, als könnte man sich tatsächlich darin bewegen. Daphne Du Mauriers Manderley aus Rebecca wäre so ein Beispiel, das unheimliche Landratshaus aus Effi Briest, in dem man den Chinesen im oberen Stockwerk praktisch herumschleichen hört, das Buddenbrook’sche Stadthaus in der Lübecker Mengstraße 4, das einem schon total vertraut erscheint, wenn man zum ersten Mal tatsächlich davor steht. Und wer ist nicht schon an Kafkas Architekturen der Unmöglichkeit gescheitert. Wie so oft, bemerkt man etwas erst, wenn es eben nicht funktioniert.

Der Spatial turn hat seit den 1990er Jahren den Blick für Räume und Topographien geschärft und damit eine Vielzahl neuer Perspektiven auf die Literatur geöffnet. Dabei waren vor allem mentale und semantische Räume von Bedeutung. Auffällig und verwunderlich ist, dass das Augenscheinlichste, nämlich die Architektur, der materielle Raum also, insgesamt mehr als stiefmütterlich behandelt wurde. Dem verschafft der Wiener Germanist Roland Innerhofer mit seinem Band Architektur aus Sprache eindrucksvoll Abhilfe. Das Buch ist passend zum Thema originell aufgebaut. Es gibt ein Entree, gefolgt von Bauplan und Fundamenten, ein Kapitel mit Umbrüchen und drei Kapitel zu unterschiedlichen literarischen Baustellen. Als prachtvolle Eingangstür, um im architektonischen Metaphernfeld zu bleiben, fungiert Emily Dickinsons wunderbares Gedicht I dwell in Possibility. Ein besseres Beispiel für die Verbindung von Sprache und Architektur kann man kaum finden, wie die erste Strophe zeigt: „I dwell in Possibility – / A fairer House than Prose – More numerous of Windows – Superior – for Doors“. Innerhofer beschreibt die verschiedenen Bezugspunkte, Ähnlichkeiten und Wechselwirkungen von Architektur und Literatur. Diese sind wesentlich vielfältiger und komplexer als jene, die einem unmittelbar in den Sinn kommen, Architektur als Metapher beispielsweise, wie sie etwa in der psychoanalytischen Literaturtheorie häufig Verwendung findet, oder die eingangs beschriebene (Re-)Konstruktionsleistung des Lesers, der damit selbst zum geistigen Architekten wird. Literatur und Architektur arbeiten nach ähnlichen Konstruktionsprinzipien, so kann der „architektonische Raum […] weniger als Metapher denn als Modell für die Konstruktion des Textes“ (15) fungieren. Das Druckbild von Lyrik kann „der optischen Erscheinung von Bauten“ (ebd.) ähnlich sein. Auf der anderen Seite weist Innerhofer darauf hin, dass Architekten sich in ihren theoretischen Verortungen und Manifesten literarischer Rhetoriken bedienen.

Zeitlich beschränkt sich der Band auf die Jahre 1890-1930. Das ist allein deshalb schade, weil die Interpretationen und Ausführungen zu den einzelnen Texten so interessant und gelungen sind, dass man gerne auch etwas über die Architektur in anderen Epochen und in neuerer Literatur gelernt hätte. „Gelernt“ ist dabei wortwörtlich zu verstehen, weil man danach tatsächlich klüger ist als vorher. Die Jahrhundertwende und die Moderne sind natürlich prädestiniert für eine solche Untersuchung, gibt es hier doch eine besonders fruchtbare ästhetische und theoretische Rezeption und Beeinflussung der verschiedenen Künste untereinander, so eben auch zwischen Literatur und Baukunst. Nach einem Kapitel über die Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts und über die Wahrnehmung und Gestaltung von Architektur konzentriert sich Innerhofer auf eine begrenzte Anzahl von Beispielen, die er dafür umso genauer abhandelt. Paul Scheerbart, Kubin, Kafka, Hans Henny Jahnn, Thea von Harbou, Döblin und Musil dienen als exemplarische Beispiele.

Durch die Konzentration auf die Architektur statt auf den Raum kann Innerhofer sogar einem (auch raumtheoretisch) so vielinterpretierten Autor wie Kafka noch neue Erkenntnisse abgewinnen. Schon in dessen Titeln spielen architektonische Gebilde häufig eine Rolle, vom Schloss bis zum Bau. „Seine Texte modellieren einen Raum, dessen Beschaffenheit und Konturen zugleich wieder in Frage gestellt werden. Im selben Zuge, wie die Texte architektonische Räume hervorbringen, destabilisieren sie sie“ (194). Anhand der architektonischen Strukturen lässt sich Kafkas ästhetisches Konzept beschreiben. Die Bauwerke sind labyrinthisch, dunkel bedrückend. Sie gewähren keinen Schutz, sondern erzeugen klaustrophobische Zustände, es sind Gefängnisse, „Räume der Angst und des Übergangs“ und „Architekturen der Gewalt“, wie Innerhofer zwei Unterkapitel benennt. Dennoch hätte man im Kafka-Kapitel am ehesten kürzen können, weil einiges redundant ist oder schon ausreichend erforscht wurde. Allerdings bilden Kafkas verstörende, auf das Detail gerichtete Architekturbilder, die kein kongruentes Ganzes formen und so die Orientierungslosigkeit des Individuums spiegeln und hervorbringen, einen schönen Übergang zu Hans Henny Jahnn und Thea von Harbou und damit zu Beispielen, in denen Architektur „den desintegrierenden Tendenzen der Zeit ein Bollwerk“ entgegenzustellen versucht, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. In Harbous Metropolis sind Details nicht mehr sichtbar, die Arbeiter verschwimmen zur Masse in der futuristischen Herrschaftsarchitektur. Wer Fritz Langs Verfilmung kennt, wird auch kafkaeske Momente der Verunsicherung in Erinnerung haben, denn Habous Konzept ist zwar architektonisch sehr klar, die Herrschaftsarchitektur wird aber auch proletarisch kritisch und verunsichernd inszeniert. Die Gegenüberstellung von Kafkas und Harbous unterschiedlichen Verarbeitungen des Turmbau-zu-Babel-Mythos’ ist daher sehr erhellend. Während bei Kafka der Turmbau ständig verschoben wird und in der Vorbereitung stecken bleibt, wird in Metropolis die Hybris dieser Idee nicht grundsätzlich negiert, allerdings utopisch von der Integration des Volkskörpers in die Herrschaftsarchitektur abhängig gemacht.

Nach diesen Beispielen der Remythisierung der Architektur folgen provisorische Bauten bei Döblin und Musil und damit bekommt auch der Großstadtroman seinen Auftritt, wobei vor allem das Kapitel über Der Mann ohne Eigenschaften neues zu bieten hat, während auf Döblins Berlin Alexanderplatz keine neuen Perspektiven eröffnet werden. Insgesamt ist interessant, dass gerade der Einsatz von Architektur, die ja stabilisierend wirken sollte, in der Literatur sehr häufig dekonstruierend eingesetzt wird. Im „Ausgang“ betitelten Fazit weist Innerhofer nochmals auf die Unterschiede zwischen den beiden Künsten hin und betont die Stärken der Literatur. Sie weist auf die „prekären Erfahrungen im alltäglichen Umgang mit Bauten hin“ und setzt diesen oftmals vergänglichen Bauten Möglichkeitsräume entgegen, die oftmals mehr Bestand haben, als jede Mauer aus Stein. Hervorzuheben sind noch das ausführliche Literaturverzeichnis und die farbigen Abbildungen im Anhang. Innerhofers Band wird mit Sicherheit ein Standardwerk zum Thema, das sowohl für Architektur- als auch für Literaturinteressierte relevant ist.

Roland Innerhofer Architektur aus Sprache
Korrespondenzen zwischen Literatur und Baukunst 1890–1930.
Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2019.
335 S.; geb.
ISBN 9783503181759.

Rezension vom 13.03.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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