#Sachbuch

Marie von Ebner-Eschenbach: Schriftstellerin zwischen den Welten

Maria Piok, Ulrike Tanzer, Kyra Waldner (Hg.)

// Rezension von Deborah Holmes

Es empfiehlt sich, den letzten Beitrag in diesem reichhaltigen Sammelband zum Leben und Werk Marie von Ebner-Eschenbachs zuerst zu lesen. Mitherausgeberin Ulrike Tanzer, seit langem eine der wichtigsten Akteure in der Ebner-Eschenbach-Forschung, legt hier knapp aber klar die vielen Versäumnisse und Desiderata dar, die die Ebner-Rezeption besonders kennzeichnen (‚Zum Stand der Ebner-Eschenbach-Forschung. Einige Anmerkungen‘, S. 219-228). Obwohl die Autorin zu Lebzeiten allgemeine Anerkennung genoss, bestimmen heute gravierende ’strukturelle Defizite‘ (S. 220) unseren Zugang zu ihren Schriften und ihrer Biographie.

Anders als bei weiteren prominenten Vertretern des (Spät-)Realismus – Tanzer weist auf Ebners Zeitgenossen Storm, Keller und Fontane hin – wurde nie eine Vereinigung zur Pflege ihrer Werke gegründet, es gibt keine Gedenkstätte, kein Museum oder Forschungszentrum; eine historisch-kritische Gesamtausgabe wurde zwar in den späten 1970er Jahren begonnen, aber nie abgeschlossen; der Nachlass ist zerstreut, der allergrößte Teil der Korrespondenz und alle Notizbücher der Autorin bleiben unveröffentlicht. Tanzer kommentiert diese Situation in Bezug auf die kulturellen, sprachlichen und historischen Spezifika des Falls aber auch im Lichte der aktuellen österreichischen Forschungs- und Bildungspolitik.

Umso wertvoller erscheint dann der vorliegende Sammelband, der die Ergebnisse einer Tagung im März 2016 zum hundertsten Todestag Ebner-Eschenbachs mit bisher unveröffentlichten und wieder entdeckten Materialien zusammenbringt. Reich bebildert und thematisch vielfältig, spricht der Band sowohl Kenner als auch eine allgemein interessierte Leserschaft an. Etablierte Größen der Ebner-Forschung nuancieren bereits bekannte Ansätze mithilfe neuer Quellen und Einsichten: zur gleichen Zeit kommen neue Stimmen eindrucksvoll zu Wort.

Die Reihe der Ersteren führt Peter C. Pfeiffer an. Er wird von der kürzlich erschienen vierbändigen Leseausgabe (Residenz Verlag 2015, hrg. von Ulrike Tanzer, Daniela Strigl und Evelyne Polt-Heinzl) dazu angeregt, Ebners Erzählanfänge und -schlüsse neu zu lesen. Seine Aufmerksamkeit gilt ihren gattungstechnischen Innovationen und ihrer Experimentierfreudigkeit. In einem Beitrag zur ‚Reitnärrin‘ Ebner-Eschenbach entwickelt Daniela Strigl ein wichtiges Thema ihrer Ebner-Biographie (Berühmtsein ist nichts, Residenz Verlag 2016) weiter, nämlich die Pferdebegeisterung der Autorin und die Ambivalenz ihrer Beschreibungen vom Umgang mit Tieren. Hier bestechen auch die bisher unbekannten Bildquellen, einige von Ebner-Eschenbach selbst gezeichnet. Eda Sagarra (‚Do children actually matter‘, S. 85-90) behauptet, Ebners Kinderfiguren gehören weniger zum Kanon des europäischen Realismus als vielmehr in einer längeren Tradition des moralischen Erzählens, bei dem individuelle Charakterisierung weniger wichtig ist als exemplarisches Leid. Letzteres setzt die Autorin durchaus, wenn nicht hauptsächlich gesellschaftskritisch ein, vor allem was Frauenschicksale im altösterreichischen Patriarchat betrifft. Weitere Überlegungen zur Wichtigkeit des Leids finden sich bei Marie Luise Wandruszka, ‚Handeln/Leiden. Überlegungen zum Politischen Realismus Marie von Ebner-Eschenbachs‘ (S. 91-102). Hier kommt die Spinoza-Rezeption der Autorin zur Sprache und zahlreiche wertvolle Streiflichter werden quer durch das Werk geworfen.

Dank der Entdeckung, Entzifferung und Editierung einer nahezu lückenlosen Korrespondenz mit der Dichterin Josephine von Knorr (de Gruyter 2016, hrg. von Ulrike Tanzer, Irene Fußl, Lina Maria Zangerl, Gabriele Radecke) wissen wir nun viel mehr, vor allem über die früheren Jahre von Ebner-Eschenbachs Schaffen. Hinweise in diesen Briefen führten u.a. zur Wiederentdeckung ihrer ersten Publikationen: ein Aufsatz zum britischen Märtyrerkönig Karl den I und ein Gedichtzyklus, „Gedichte. Aus einem Liederbuch“, der im vorliegenden Band zum ersten Mal seit seiner Erscheinung im Jahre 1854 wiedergegeben wird. Präsentiert von Walter Hettche und Ulrike Tanzer, überraschen die einfach gestrickten Volksliedstrophen durch ihr Pathos. Ebners spätere Protagonisten zeichnen sich oft durch Selbstkontrolle und Pflichtbewusstsein aus, hier wird eine leidenschaftliche, unerwiderte Liebe frei bekannt und beklagt. Der Zyklus schließt mit einem Bekenntnis, nicht zur Liebe, sondern zur Literatur als Heilmittel: ‚O! Welcher Zauber mag doch liegen / In Deiner Schrift geliebten Zügen, Daß mich dies kleine, weiße Blatt, dem Todesschmerz entrissen hat?‘

Die Ergiebigkeit der Korrespondenz mit Knorr wird in vielen der weiteren Beiträge aufgegriffen, zum Beispiel in Irene Fußls Darstellung vom Alltag der Ebner-Eschenbach (S. 57-68). Ihrer Dichterkollegin erzählt sie unverblümt von ihrer Mehrfachbelastung als Ehefrau, Tochter und kinderlose Tante, auch vom Druck der Familie, das Schreiben aufzugeben. Eine kryptische Briefstelle, die Daniela Strigl in ihrer Ebner-Biographie als Hinweis auf eine mögliche außereheliche Liebesverstrickung der Autorin interpretiert, wird von Fußl hier als neuen Beweis für den immer wieder aufflackernden Familienstreit um Ebners schriftstellerische Tätigkeit gelesen. Auch im folgenden Beitrag von Lina Maria Zangerl, ‚“Ich brauche ‚Das Schreiben‘ nothwendiger als die Luft die ich athme“ (S. 69-84), werden Autorenschaftsentwürfe als eigentlicher Kern der Briefe an Knorr präsentiert. Eine weitere wesentliche Frauenfreundschaft Ebners, die als aktive Kollegenschaft angebahnt wurde, wird in Karin S. Wozonigs Ausführungen zu ‚Betty Paoli: Marie von Ebner-Eschenbachs erste Rezensentin‘ dargestellt (S. 103-117). Kyra Waldners Beitrag, ‚“Entscheiden Sie, bitte“ Anmerkungen zum Nachlass Marie Von Ebner-Eschenbachs‘, der wertvolle Einsichten in den Teilnachlass an der Wienbibliothek und die Umstände seiner Überlieferung gewährt, hätte ebenso den Namen einer wichtigen Frau in Ebners Leben im Titel tragen können. Die sonst völlig unbekannte Helene Bucher, Ebners Sekretärin, Korrekturleserin und Assistentin in späteren Jahren, verwaltet unmittelbar nach dem Tod der Autorin ihren Nachlass und gab den Band Letzte Worte (1923) posthum heraus. Ebners Offenheit für Anregungen und Vorschläge anderer zeigt sich auch in dieser bisher unerforschte Zusammenarbeit.

Weitere Beziehungsgeschichten werden von Walter Hettche und Evelyne Polt-Heinzel beleuchtet. Polt-Heinzel fasst einige Ergebnisse ihrer ausführlichen Studie Ringstraßenzeit und Wiener Moderne. Porträt einer literarischen Epoche des Übergangs (Wien, Sonderzahl 2015) zusammen, um Ebners Verhältnis zu den Autoren von ‚jung Wien‘, allen voran Arthur Schnitzler, nachzuzeichnen. Hettche widmet sich der langen Brieffreundschaft zwischen Paul Heyse und Ebner-Eschenbach. Die geschlechtsspezifischen Schranken jener Zeit manifestieren sich beeindruckend klar, wenn man diese Korrespondenz mit Ebners Briefen an schreibende Frauen oder Heyses Schriftwechsel mit männlichen Kollegen vergleicht. Obwohl beide sich nachweislich mit den Werken des bzw. der jeweils anderen aktiv auseinandersetzten – wie Hettche auch zeigt –, besteht der Austausch zwischen Ebner und Heyse im Wesentlichen aus hyperbolischen Komplimenten, Dankbarkeits- und Verehrungsformeln.

Die genauere literatur- und kulturwissenschaftliche Kontextualisierung der Person und Autorin Ebner-Eschenbach wird in mehreren Beiträgen weitergetrieben. In einer faszinierenden, kunst- und gesellschaftshistorisch äußerst ergiebigen Analyse der überlieferten plastischen und fotographischen Porträts der Autorin behandeln Ingeborg Schemper und Caroline Mang gleichzeitig Ebner-Eschenbachs komplexe Einstellung zum eigenen Bild (S.199-217). Eins von den besprochenen Beispielen bleibt besonders in Erinnerung – die Medaille mit Porträt en face, die zum 70. Geburtstag der Autorin mit einer Widmungsurkunde aus der Feder Heyses ausgegeben wurde. Heyse preist die ‚geistbeseelten Zügen‘ des Bildnisses, stellt aber fest, dass sie nur einen ‚Abglanz‘ von Ebners Wesen wiedergeben können – ohne sich jedoch, wie Hettche in seinem Beitrag unterstreicht, jemals die Mühe gemacht zu haben, die Autorin Gesicht zu Gesicht kennenzulernen. Techniken der Abbildung stehen auch bei Magdalena Stieb im Mittelpunkt. Anhand vieler aufschlussreichen Details untersucht sie engmaschig und überzeugend den Einfluss der Fotographie als kulturelle Praxis und ästhetisches Verfahren in Erzähltexten von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar (‚“Jeder Bart eine Redensart“‚, S. 169-186). Milan Tvrdík (S. 119-134) vergleicht Ebner-Eschenbach mit ihrer Zeitgenossin, der tschechischen Realistin Karolina Sv?tlá, die auch darauf bestand, das Dorfleben in einer Zeit der zunehmenden Urbanisierung weiterhin als wichtig zu erachten.

Im Vorwort des Bandes Marie von Ebner-Eschenbach, Schriftstellerin zwischen den Welten wird eine etwas defensive Note angeschlagen: ‚Vieles mag, zumal sich die einzelnen Beiträge mit jeweils eigenen Spezialgebieten befassen, knapp, disparat, vielleicht sogar widersprüchlich sein‘. Es werden durchaus unterschiedliche Sichtweisen auf die Autorin angeboten, aber die Vielfalt der Ansätze bildet eine Stärke des Ganzen und beweist eindrucksvoll, wie ergiebig diese langlebige, vielseitig interessierte, selbstkritische Autorin als Forschungsgegenstand sein kann. Zudem bewahrheitet sich auf alle Fälle die vorsichtig ausgedrückte Hoffnung der Herausgeberinnen, dass gerade die ‚Ambivalenz‘ des Bandes selbst ‚ein Anreiz dafür sein kann, diese auch im Werk von Marie von Ebner-Eschenbach zu entdecken.‘

Maria Piok, Ulrike Tanzer, Kyra Waldner (Hg.) Marie von Ebner-Eschenbach: Schrifstellerin zwischen den Welten
Sammelband.
Innsbruck: Innsbruck University Press, 2018.
229 S.; geb.
ISBN 978-3-901064-53-1.

Rezension vom 09.04.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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