#Sachbuch

Sache / Ding

Oliver Jahraus, Michaela Nicole Raß, Simon Eberle (Hg.)

// Rezension von Anna Obererlacher

Sache / Ding, ein Begriffspaar, eine Differenz, an der sich ästhetische Verfahren in der Weimarer Republik ablesen lassen. Eine Forschungsgruppe hat sich am Center for Advanced Studies (CAS) an der LMU München zusammengefunden, um dem Diskurs dieser beiden Begriffslinien zu folgen, sie abzuschreiten, Kontexte zu erarbeiten, Weichen zu stellen und wieder zusammenzuführen. Interessensleitend war dabei die Forschungsfrage „Inwieweit kann die Medienkultur der Weimarer Republik entlang der Leitdifferenz von Sache / Ding, Versachlichung / Verdinglichung beschrieben werden“ (S. 15). Dem vom produktiven Arbeitsklima der Gruppe zeugenden Band aus der Reihe edition text + kritik gingen eine internationale Tagung, Workshops und eine Ausstellung voran.

Die Weimarer Republik, die zerrissene Zeit, war geprägt von massiven (gesellschafts)politischen Bruchstellen und Komplexitäten, die sich nicht zuletzt auch im Umfeld pluralistischer medialer Repräsentationsformen widerspiegeln. Diese in den Blick zu nehmen heißt, Vereinfachung und Pauschalierung entgegenzuwirken. Die Forschergruppe hat dabei einen komparatistischen Weg eingeschlagen und zwei Begriffe, den des Dings bzw. der Verdinglichung und jenen der Sache bzw. Versachlichung, als zwei unterschiedliche ästhetische Verfahren dieser Epoche, die eben unter dem Schlagwort der Neuen Sachlichkeit Werkkontexte geschaffen haben, ins Zentrum gestellt. Werkkontexte, weil, wie dieser Band eindeutig zeigt, gerade die Verfahren und Entstehungsprozesse ganz zentral sind, um ein Verständnis für diese künstlerische Schaffensperiode zu ermöglichen. Versachlichung ist dabei „die ästhetische Darstellung von Phänomenen, die das Phantasma eines objektiven Blicks verfolgt“ (S. 16) und Verdinglichung, wie im einleitenden Beitrag von Oliver Jahraus definiert und in weiterer Folge immer wieder wiederholt wird, meint „die gegenteilige ästhetische Strategie, die ein Phantasma verfolgt, demzufolge sich die Objekte selbst – im Sinne des Expressionismus – ausdrücken, ihren Objektcharakter transzendieren und so eine eigene, ihnen inhärente ästhetische Wahrheit sichtbar machen können.“ (S. 16)

Die insgesamt 19 Aufsätze werden auf vier Themenblöcke aufgeteilt. Oliver Jahraus und Helmuth Kiesel befassen sich allgemein mit dieser Leitdifferenz in der Medienkultur der Weimarer Republik; dem Ordnungsrahmen, innerhalb dessen der Diskurs stattfindet, ihn hinterfragt und überschreitet. Kiesel etwa führt vor, wie sich Verdinglichungs- und Versachlichungbewegungen darstellen können, etwa wenn ein „Stimmengewirr“ (S. 36), durch die Aneinanderreihung von Zitaten die „Dinge (einschließlich der Menschen) selbst zu sprechen“ (S. 36) beginnt und sich vom Objekt- dem Subjektstatus annähert. Eine zentrale Autorenfigur, der sich gleich mehrere Aufsätze widmen, bildet dabei Rainer Maria Rilke – besonders im umfangreichsten Themenblock dieses Bandes, jenem zur Literatur.

Neben Rilke, dessen Poetik („Dinggedichte“) im Beitrag von Alexander Honold und Antje Büssgen (unter dem Aspekt der Versachlichung) im Zentrum steht, befassen sich einige Beiträge auch mit Erich Kästners Werk in unterschiedlichen Kontexten. So auch (neben anderen Autoren und Werken) der Beitrag von Stefan Neuhaus, der die Frage der Versachlichung und Verdinglichung von Gefühlen ins Zentrum stellt. Gerade auch der Begriff der Neuen Sachlichkeit bzw. die damit verbundenen Attribute werden wiederholt einer Prüfung unterzogen. Die Verfahren von prominenten VertreterInnen dieser Strömung wie etwa Hermann Broch (im Beitrag von Paul Michael Lützeler) werden noch einmal spezifischer, Schicht für Schicht untersucht, was eben durch diese Berücksichtigung der vorangestellten Leitdifferenz möglich wird. So werden bestehende Lesarten hinterfragt, zugleich aber entstehen neue – im Sinne einer Addierung von Perspektiven, mehr denn einer dogmatischen Umwertung.

Zu den Merkmalen der Neuen Sachlichkeit gehört auch ihre zeitliche Verortung zwischen zwei Weltkriegen, der Zeit einer Gleichzeitigkeit von Nach- und Vorkriegsliteratur, in der die Geschehnisse gerade einmal zur Sprache kommen bevor sie in neuen Unaussprechlickeiten menschlicher Gräueltaten gebunden werden. So macht etwa Lars Koch die Angst bzw. Strategien der Angstabwehr in Ernst Jüngers Frühwerk, das im Kontext persönlicher Erlebnisse des Autors im Ersten Weltkrieg steht, etwa „In Stahlgewittern“, zum Thema. Die Verschränkung von Großstadt, Collage und Körper macht indes Maren Lickhardt produktiv, wobei sie sich besonders auf Irmgard Keun und Klaus Mann bezieht und dabei neue Spielformen von Textraumbelebung und -gestaltung aufdeckt. Im Zeitgeist dieser Modernisierung wird auch wiederholt das Mensch-Maschine-Verhältnis verhandelt, wobei es gerade in Bezug auf schriftstellerische Arbeit mit der Schreibmaschine zu interessanten Dynamiken kommt. Die Schreibmaschine als Arbeitsgerät, aber auch gewissermaßen mystisch aufgeladen, ist der Interessensschwerpunkt von Friedhelm Marx’ Beitrag zur Schreibmaschine in der Weimarer Republik. Eine Großstadt, eine Metropole, in der sich ein kreatives Spannungsfeld von Nostalgie, Gegenwart und Utopie auftut, wie Ulrike Zitzlsperger aufzeigt. Es ist dabei die Thematisierung des Funktionierens, die „Mechanik des Alltags“ (S. 198) dieser Metropole, die etwa in Walter Ruttmanns Dokumentarfilm „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“ stattfindet und damit die Stadt verdinglicht.

Das für die Weimarer Republik so zentral werdende Medium Film steht dann wiederum eigens im Zentrum des zweiten Themenblocks, in dem sich Beiträge von Michaela Nicole Raß, Michael Braun, Henry Keazor, Burcu Dogramaci und Fabienne Liptay finden. Raß begibt sich sogleich auf eine Spurensuche nach Verdinglichung im Film in der Weimarer Republik und zieht in ihrer Analyse verschiedene Perspektiven ein, indem sie einmal die Ebene des Darstellens und zweitens die Ebene der Darstellung selbst wählt. Inwieweit sich die Einschätzung eines Werks verändern kann, wenn es zu einer medialen Übertragung, etwa einer Filmadaption eines Buchs, kommt, zeigt Michael Braun anhand der filmischen Bearbeitungen von Erich Kästners „Emil und die Detektive“. Ein Text, der der neuen Sachlichkeit zugeordnet wird, aber im Lichte seiner Verfilmung(en) eine neue Perspektive erhält.

Ein Beitrag von Henry Keazor stellt sich indes die Frage nach den Verfahren der Filmreportage am Beispiel von Fritz Langs „M“ und Curcu Dogramaci widmet sich den Künstlerfilmen von Hans Cürlis, die sich insbesondere auf die manuelle Seite des künstlerischen Schaffens konzentrieren, wobei der Fokus auf den schaffenden Händen, wo der Mensch im materiellen wie im geistigen Sinn „er-fasst“ und „be-greift“ (S. 284), liegt. Das an seine äußersten oder innersten (technischen und maschinellen) Grenzen gespielte Medium Film – vorgeführt anhand des „Lichtrequisit einer elektrischen Bühne“ von László Moholy-Nagy problematisiert – findet im Beitrag von Fabienne Liptay seinen Platz, bevor der Sammelband sich abschließend noch den als „mediale Ästhetiken“ betitelten Diskursen widmet und damit einige der vorhergegangenen Diskursstränge enger zurrt.

Hier widmet sich Sabina Becker der „funktionalen Ästhetik und Materialkunst“ (S. 305), wobei sie dem Bedürfnis nach Vergegenständlichung in den Krisenzeiten der Weimarer Republik nachgeht bzw. davon ausgeht. Das Sehen, das bereits im Beitrag von Zitzlsperger hervorgehoben wurde, wird nun bei Tanja Proki? noch einmal in Hinblick auf das neue Sehen eigens besprochen. Mit dem Aufsatz von Rüdiger Görner wird nun nach den im Band dominanten filmischen Kunstformen noch die Oper, im Kontext von Intermedialisierung, näher betrachtet. Michaela Nicole Raß bleibt mit ihrem Beitrag „Die Sache mit dem Ding“ schließlich das vorläufig letzte Wort im Sammelband, wobei sie Versachlichung und Verdinglichung als Verfahren im Kontext der Dynamik zwischen Textfolie und Bild, genauer Text und seinen Illustrationen, ortet und den Bogen zu gegenwärtigen Verfahren der Versachlichung und Verdinglichung, etwa im Literaturcomic (anhand der Arbeiten von Isabel Kreitz), spannen kann.

In dieser dichten Arbeit besonders hervorzuheben ist die Darstellung des Medienpluralismus an dem Begriffspaar bzw. Gegensatzpaar, die sich als roter Faden durch den Band zieht. Etwa, indem sich im einen Medium Bezüge des Schaffens zu eine manderen Medium aufzeigen lassen und somit die vielfältigen Dynamiken dieser Kunst- und Literaturperiode deutlich werden. Etwa im Aufsatz von Antje Büssgen, die die Durchdringung von Rilkes ästhetischen Verfahren von seinem „begriffslosen Schauen“ (S. 119) auf die bildende Kunst etwa Paul Cézannes oder die Orientierung am Arbeitsethos Auguste Rodins aufzeigt. Ebenso zeigt sich im Aufsatz von Lars Koch, wie Ernst Jünger über das Medium der Fotografie neue Ausdrucksmöglichkeiten gefunden hat, in dem sich das Gesagte ungleich eindrucksvoller – zur „visuellen Einfrierung des Lebens“ (S. 157) – manifestieren kann und damit neue Intensitäten schafft. Gerade diese neuen Blicke, die in diesem Umfeld neuer medialer Repräsentationsformen und künstlerischer Ausdrucksmittel möglich werden, sind nicht zuletzt durch die Vorarbeit russischer Filmkünstler und -theorien möglich. Das Auge ist, wie Ulrike Zitzlsperger aufzeigt, ein „wiederkehrendes Phänomen“ dieser Zeit „und wird zum Indiz des Unbehagens mit der Kultur“ (S. 200). Die Kamera bietet ein neues Sehen und zugleich neue Wege des Gesehenwerdens. Das Einfrieren, Festhalten, Dokumentieren, zur Ruhe gebrachte Gesehene und zur näheren Betrachtung Dargestellte ist eben genau so möglich wie die Inszenierung von Geschwindigkeit, Dynamik sowie die Visualisierung abstrakter Fantasien und Sequenzen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen.

Der Pluralismus, das „Stimmengewirr“, die Eigendynamik, die von den vielen Gegenüberstellungen innerhalb der einzelnen Beiträge aber auch zwischen ihnen ausgeht, spiegelt das Untersuchungsobjekt wiederum auf einer Metaebene. Versachlichung und Verdinglichung sind letztlich nicht nur künstlerischen Arbeiten vorbehalten, sondern gerade an der in diesem Band spürbare Lust am Abschreiten der gezogenen Linien und zugleich Entdeckung von Neuland lassen sich besprochene Verfahren wiedererkennen. Es zeigen sich gewinnbringende poetologische Verfahren, die neue Perspektiven auf ein bereits gut erschlossenes Werk bieten können und sich gleichermaßen für eine Untersuchung unerschlossener ästhetischer Gebiete und Gebilde eignen und nicht nur für die Weimarer Republik gültig sind.

Oliver Jahraus, Michaela Nicole Raß, Simon Eberle (Hg.) Sache / Ding
München: edition text + kritik, 2017.
391 S.; brosch.; m. s/w Abb.
ISBN 978-3-86916-639-1.

Rezension vom 26.02.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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