#Sachbuch

Die Bibliothekarinnen von Renens

Karl-Markus Gauß

// Rezension von Harald Klauhs

Die Kunst der Rede: Bei den alten Griechen eine Angelegenheit, die als eine der septem artes liberales (der sieben freien Künste) unter der Bezeichnung Rhetorik höchstes Ansehen genoss. Wer in Athen etwas gelten wollte, musste rhetorisch geschult sein. Zu Recht merkt Karl-Markus Gauß im Vorwort seines jüngsten Bandes, der unter dem Titel Die Bibliothekarinnen von Renens seine gesammelten Reden enthält, an, dass diese Kunst zwei Seiten hat. Sie kann dazu genutzt werden, in wohlgeformten Worten zu argumentieren und zu überzeugen, sie kann aber auch zur Steigerung des Ruhms, der Macht oder gar nur zur Vermehrung des eigenen Reichtums benutzt werden. Sie kann statt zum Denken anzuregen dazu missbraucht werden, Stimmung zu machen und Menschen zu manipulieren. Die demagogische Seite der Kunst der Rede wird nicht in Akademien gelehrt, sondern in NLP-Kursen vermittelt.

Nun ist Karl-Markus Gauß ein Redenschreiber, keiner, der (gerne) Reden hält. Bei einem Mundwerker gehört zur rhetorischen Begabung auch schauspielerisches Talent. Der Autor als Redenschreiber sitzt jedoch zu Hause und imaginiert sich ein Publikum. Das hat den Nachteil, dass es mit demjenigen, vor dem die Rede dann verlesen wird, nur am Rande zu tun haben muss, aber den Vorteil, dass sich dieses eingebildete Auditorium schwer lenken lässt. Der Autor als Redner muss sich also auf seine Sprache statt auf seine Mimik konzentrieren, er muss darauf achten, was er wie sagt, nicht wie er was sagt. Das kommt dem mit Redefiguren vertrauten Autor Karl-Markus Gauß zugute. Entfaltet sich sein Talent doch beim Feilen von Sätzen, nicht in der Intonation oder Gestik. Der in seinem mehr oder weniger stillen Kämmerlein arbeitende Autor achtet demgemäß mehr auf die stilistische Brillanz seiner Reden als der Wahlkämpfer, der coram publico – sagen wir auf dem Salzburger Residenzplatz – Leute für sich einnehmen muss.

Schönen Worten – das wissen wir im Zeitalter von Fake News – ist oft nicht zu trauen; nicht alles, was in wohlgesetzter Rede auf uns kommt, ist fraglos hinzunehmen. Misstrauen ist angebracht, Widerspruch angezeigt. Allein bei den in diesem Buch versammelten 17 Reden tut man sich schwer damit. So sehr man sich auf die Suche nach Ungereimtheiten, nach Denkfehlern oder falschen Schlüssen macht: Man trifft nur auf profunde Bildung, geschliffenen Stil und aufrechte Haltung. Es ist dem Redner wider Willen Karl-Markus Gauß sogar zu glauben, dass er für jeden Text – egal welcher Gattung – dieselbe Sorgfalt aufwendet. Diese Selbstauskunft impliziert allerdings, dass auch der Leser jedem seiner Texte dieselbe Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen sollte. Eine indirekte Aufforderung, die immerhin den Ansatzpunkt eines Einwands bietet. Mögen Gauß persönlich alle seine Texte gleich lieb und teuer sein, so ist es doch das gute Recht jedes Adressaten, Unterschiede zu machen. Eine anlassbezogene Festrede muss das p. t. Publikum keineswegs in gleicher Weise interessieren wie ein Roman, die Laudatio auf eine geschätzte Autorin wäre ohne deren Werke schwer vorstellbar.

Der dritte Teil dieser Redensammlung beginnt etwa mit einer Lobrede auf die wahrhafte Europäerin Ilma Rakusa. Geboren in der Slowakei, laufen gelernt in Budapest, nach ein paar Monaten übersiedelt nach Ljubljana und weiter nach Triest. In der Taferlklasse findet sie sich in Zürich wieder; und um Romanistik und Slawistik zu studieren, hält sie sich in Paris und Leningrad auf. Eine wahrlich europäische Biografie – ganz nach dem Geschmack von Karl-Markus Gauß: „Wie viele Anregungen hat sie aus dem Osten aufgenommen, auf Reisen durch Länder und Bibliotheken.“ Damit ist das Gestirn benannt, nach dem sich der Salzburger Homme européen orientiert: Osten, Reisen, Länder und Bibliotheken. Unermüdlich kämpft der Nachfahre von Donauschwaben gegen die westliche Ignoranz und für die Anerkennung der reichen Kultur des europäischen Ostens. Wie ein Ariadnefaden zieht sich sein Engagement für die Ausgebeuteten, die Minderheiten und aussterbenden Völker durch sein Werk und führt ihn über viele Stationen immer wieder zurück zu seinem Ausgangspunkt.

Denn die Stadt an der Salzach ist für Karl-Markus Gauß der Mittelpunkt Europas (der tatsächlich im Baltikum liegt). An ihr leidet er, ebenso wie er sie liebt. Anlässlich des Gedenkens daran, dass vor 200 Jahren das ehemalige Fürsterzbistum Salzburg Teil des habsburgischen Reiches wurde, hält Gauß eine Festrede, und erkennt in dem Bundesland seine kleine Welt, in der Europa seine Probe hält. „Salzburg hat immer gewonnen, wenn es sich der Welt öffnete, (…) und sich immer dann selbst schweren Schaden zugefügt, wenn es auf die Aus- und Abschließung setzte“. Dementsprechend betrachtet er die Solidaritätsverweigerung einiger osteuropäischer Länder in der Flüchtlingskrise von 2015ff als persönliche Niederlage: „Es ist eine Schande für diese Länder, auch weil in ihrer nationalen Erinnerung die Flucht vor Bedrückern, der Neuanfang in irgendeiner Fremde, eine so bedeutende Rolle spielen“, heißt es in seiner Rede zur Verleihung eines Preises für Reportagen aus mittel- und osteuropäischen Ländern.

Wie anders er sich das neue Europa vorstellt, ein Europa, das aus dem 20. Jahrhundert gelernt hat, erfährt man von ihm zwei Jahre später, als er die Eröffnungsrede zur Buch Wien 2017 hält. Im unbedeutenden schweizerischen Industriestädtchen Renens begegnet ihm in einer Bücherei seine ideale Welt. „Es sind sagenhafte 280 Sprachen, in denen diese Bücher verfasst wurden … Renens hat nur 20.000 Einwohner, aber die stammen … aus mehr als hundert Ländern.“ Deshalb hat sich die Verwaltung der Stadt entschlossen, eine Bücherei einzurichten, in der sämtliche Stadtbewohner etwas zum Lesen finden können. In einem Nichtmitglied der EU ist also genau das entstanden, was nach Gauß ihr Vorbild sein könnte: das friedliche Zusammenleben verschiedenster Völker.

Danach sieht es in einem mehr zur Spaltung denn zur Einigkeit neigenden Europa zurzeit nicht aus. Das publizistische Trommelfeuer der Europaverächter auf der einen und der -verklärer auf der anderen Seite bewirkt nur zunehmende Abstumpfung bei den Europäern. Die ist für Gauß aber das Schädlichste. Für ihn ist die Literatur kein Spiel, wie er in der letzten Rede dieses Buches glaubhaft macht. Darin würdigt er eines seiner Vorbilder, den streitbaren Autor Michael Guttenbrunner, für den auch Gedichte dazu da waren, „das wild Erlebte, krass Empfundene, Schmerz und Empörung unmittelbar auszudrücken“. Das Laue, die Pflichtübung, ist auch Karl-Markus Gauß fremd. Seine Reden sind allesamt auch Appelle, Aufrufe dazu, sich mit diesem Europa auseinanderzusetzen. Dabei heischt er nicht um Zustimmung, sondern fordert zum Nachdenken auf, zum Überdenken von vorgefassten Meinungen, wie man sie ununterbrochen in den „sozialen“ und den Massenmedien serviert bekommt. Wer also nach einem Antidot gegen Pseudoinformation sucht, der ist mit den Bibliothekarinnen von Renens gut dran.

Karl-Markus Gauß Die Bibliothekarinnen von Renens
Reden.
Salzburg, Wien: Otto Müller, 2018.
175 S.; geb.
ISBN 978-3-7013-1260-3.

Rezension vom 20.08.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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