#Sachbuch

Expeditionen ins dunkelste Wien

Max Winter

// Rezension von Martin Erian

„Öffentliche Geheimnisse der Großstadt sollen ausgeplaudert werden. Tausende wissen darum, weil ihnen in diesem dunklen Getriebe irgendeine Rolle zugewiesen ist, andere ahnen die Geheimnisse, ohne den Willen und die Lust zu haben, in sie einzudringen, und die Million der Großstädter geht achtlos an den Existenzen vorüber, um die sich diese Geheimnisse weben. Wer sie erforschen will, muss den Bodensatz der Großstadt durchwaten.“ (70) Wie Max Winter seinen Bericht aus Leopoldstädter Nächten, ursprünglich in vier Teilen in der „Arbeiter-Zeitung“ im Herbst 1902 publiziert, beginnt, entpuppt sich als programmatisch. Den sozialen Bodensatz durchwaten, um die Achtlosigkeit der Menge zu durchbrechen, das sollte Winters journalistische Prämisse sein, stets mit dem „Mut zur auffälligen Aufmachung“, wie er es später formulierte.

Gelingen sollte dies dem Reporter durch das Eindringen in die Welt der Beobachteten mithilfe von Verkleidungen, die nachdrücklich für seine Geltung sorgten. Auch das Cover des bei Picus nach 2006 und 2007 nun in dritter Auflage erschienenen Auswahlbandes zeigt Winter in jener „Elendsmaskerade“, mit der er nach eigener Ansicht „ganz stilgerecht aussehen“ (124) mochte und die als Leitbild der gängigen Winter-Rezeption dient. Die Methode der Rollenreportage führte den 1870 im ungarischen Tárnok geborenen Autor in Männerheime, Obdachlosenasyle, Wärmehallen und machte ihn zum legendären „Strottgänger“ in der Wiener Kanalisation. Auch wenn die Solidarisierung mitunter mit Übelkeit („Revolution von innen“, 45) einhergeht, rasch wird Winter immer wieder zum Insider, er kennt seine „Pappenheimer“ ebenso wie die „Aufregungen und Gefahren des Strizziberufes“ (85). Dienlich ist ihm die Sprache der Unterwelt, die in der Neuauflage ein Glossar lesbar macht, um authentische Einblicke in unbekannte Lebensrealitäten zu erhalten. Dabei helfen Mittelsmänner, die zudem als zynische Kommentatoren fungieren: „Wann ‚r an Guld’n aus’n Kanal auffizahr’n will, muas er sechz’g, siebz’g Kilo im Sack nachschleppe’n. Da g’hört a Hamur dazu.“ (41) Ebenso verdienstvoll sind jene Berichte, die das bittere Dasein der Arbeits- und oft auch Heimatlosen im Episodischen allzu deutlich dokumentiert. So protokolliert Winter das Gespräch von Bewohnern des Obdachlosenasyls, abgedruckt in der „Arbeiter-Zeitung“ just am Christtag 1898. Einer erhält die Empfehlung, sich eine Erkrankung („Unter der Achsel zwei ›Dibbel‹“) doch zunutze zu machen. „Da geh nur murg’n glei ins Spital. Zu d‘ Barmherzigen … dö nehmen an jeden auf. In Spital … hast’n schönsten Christbam!“ (130)

Winters verdeckte Inspektionsgänge, aber auch die Blicke hinter die Kulissen sozialer Einrichtungen wie der Rettungsgesellschaft eröffnen ihm eine „Kette hochinteressanter sozialer Bilder […]. Wer tiefer blickt, wird unschwer die Not und das Elend der breiten Volksmassen als die eigentlichen Regisseure dieser Vorführungen erkennen“ (49). Dabei präsentiert er sich ebenso geschickt in der Verbindung der Einzelfallschilderung mit statistischen Befunden zur sozialen Lage der niederen Bevölkerungsschichten wie bereit zum Schelmenstück, wenn er sich inhaftieren lässt, von den Polizisten längst erkannt jede Auskunft über seine Identität verweigert und dabei hart an der Grenze zum Klamauk entlangwandelt. „Also, machen Sie Ihre Studien!“ (146)

Der von Hannes Haas verantwortete Reportageband erweist sich in zweifacher Hinsicht als verdienstvoll. Zum einen begleitet nicht nur ein Überblick über Leben und Werk die wieder zugänglich gemachten Reportagen, sondern auch ein kenntnisreiches Vorwort des 2014 verstorbenen Herausgebers, der mit seiner Monografie „Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (1999) große Verdienste um die Verortung der Reportage zwischen Literatur, Journalismus und Sozialwissenschaft erworben hat. Haas erhebt Winter in Anlehnung an ein Wort Theodore Roosevelts zum „k.u.k.-Muckracker“, zum publizistischen Schmutzaufwirbler, anhand programmatischer Texte für die „Chemnitzer Volksstimme“ aus dem Juli 1914 (die weiter auf einen Nachdruck warten) skizziert er darüber hinaus Winters journalistisches Selbstverständnis, das dem „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch wenn schon nicht zum Vorbild, so doch zum Orientierungspunkt werden sollte.

Zum anderen verdeutlicht die Auswahl der zwischen 1898 und 1913 entstandenen Reportagen und ihre Einteilung in drei Sektionen, dass Winter nicht nur ins „dunkelste Wien“ (so der Titel der ersten Reportagesammlung 1904, die auch Alfred Polgar ausführlich würdigte) führte, sondern verschiedene Facetten der Gesellschaft im Blick hatte. Er zeigt nicht nur Elend inmitten der Großstadt auf, sondern auch, beispielhaft vorexerziert an einer Faschingsgesellschaft im ersten Bezirk, Exzesse der Wohlsituierten, moralische Fragwürdigkeiten inklusive: „Rokokokokette oder Rokokokokotte, wie man will.“ (169) Winter schlüpft zudem in die Rolle der Schreibkraft in Kolportageromanfabrik, des Bühnenarbeiters bei einer Wilhelm-Tell-Inszenierung Hugo Thimigs im Burgtheater 1904 oder des Aushilfsstatisten in der Hofoper.

Seine Berichte – auch fernab der Donaumetropole, wovon im Band Schilderungen aus Triest, vom Arlberg oder aus Whitechapel zeugen, wo sich Winter auf die Fährten von Jack London und Jack the Ripper begab – benötigten keine „›rote‹ Drastik“ (Polgar), doch dienten sie Winter und ebenso der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei als politische Waffe. In diesem Zusammenhang ist zu bedauern, dass Winters Œuvre, neben rund 1.500 Reportagen auch verschiedene literarische Versuche, von der Nachwelt weiterhin nur bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs rezipiert wird. Nach 1918 wirkte er als Vizebürgermeister, Stadtrat für das Fürsorgewesen, Bundesrat, Obmann der Kinderfreunde und Präsident der Sozialistischen Erziehungs-Internationale. Er blieb dabei ein Mann des Wortes, gründete die Frauenzeitschrift „Die Unzufriedene“ und schrieb weiter für die „Arbeiter-Zeitung“. Wer die Texte dieser Jahre lesen möchte, in denen Winter angesichts der sozialen Not in der jungen Republik um internationale Hilfe wirbt oder später die Errungenschaften des „Roten Wien“ preist, ist weiter auf die Recherche in den (mittlerweile virtuellen) Archiven angewiesen.

Unbestritten ist jedenfalls der hohe sozialgeschichtliche Wert von Winters Arbeiten der Jahrhundertwende und darüber hinaus. Wenn Teile davon neu aufgelegt werden, scheint es den Rezensent/innen (wie auch Herausgeber Haas) häufig geboten, den Aktualitätswert zu betonen, die Bedeutung seiner Methoden in einer zunehmend auf einseitige Zuspitzung ausgerichteten Medienwelt (noch vor der Erfindung der digitalen Filterblase und Fake-News-Generalverdacht) hervorzustreichen oder zumindest ihren richtungweisenden Charakter (Haas: „Vorbilder für Engagement und Qualität, für Präzision und Professionalität, für Meisterschaft in der Form“) zu honorieren. Winter hat – das zeigt dieser Band deutlicher, als wohl bisher bekannt – nicht nur den Geschlagenen Präsenz im öffentlichen Diskurs ermöglicht, sondern auch Medienkritik betrieben, namentlich am Boulevard. 1904 veranstaltete die „Kronenzeitung“ ergänzend zu einem Fortsetzungsroman eine Schnitzeljagd durch Wien, die den niederen Bevölkerungsschichten das kurzfristige Glück versprechen sollte. „In einen Abgrund von Dummheit und Würdelosigkeit schaue ich, und je mehr Opfer an mir vorüberstreichen, desto stärker wird der Ingrimm […]“ (245), notierte Winter, als Unzählige am Rande des winterlichen Wienflusses auf Schatzsuche umherirrten. Nicht nur gegen das Elend, auch gegen das mediale Einlullen der Massen einzutreten, das erachtete Winter als ureigenste Aufgabe des Reporters. Und hier dürfte der Befund tatsächlich zeitlos sein: „Wenn’s nur gedruckt ist, es ist nichts zu dumm, es wird gelesen und – geglaubt. Die Bekämpfer der systematischen Volksverdummung und geistigen Vergiftung haben fast noch alles zu tun.“ (300)

Max Winter Expeditionen ins dunkelste Wien
Hg.: Hannes Haas.
Meisterwerke der Sozialreportage.
Wien: Picus, 2018.
304 S.; geb.
ISBN 978-3-85452-493-9.

Rezension vom 20.08.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.